Die besten Storys schreibt der Sport.

Der Mythos

Der Mythos

Sócrates war nicht nur ein überragender Fußballer. Er veränderte auch eine Welt und wurde zum Vater von 150 Millionen Menschen. Autor Andy Mitten traf ihn vor seinem Tod.


Sócrates tauchte vierundzwanzig Stunden zu spät fürs Interview auf. 2010 flog ich nach São Paulo, um den legendären Brasilianer zu treffen. Er willigte zu diesem Treffen nur unter der Bedingung ein, mir während unseres Gesprächs in die Augen schauen zu können. Ein einfach zu erfüllender Wunsch, hätte er in Manchester gewohnt und nicht auf der anderen Seite des Atlantiks. Allerdings sind einige Menschen es wert, solch eine Reise auf sich zu nehmen. Und Sócrates gehörte zu diesem Kreis.

Fünf Monate brauchte es, um jenes Treffen zu arrangieren. Alles begann, als ein Freund eines Freundes mir sagte, er kenne einen Freund eines Freundes von Sócrates. Als ich im Restaurant seiner Wahl saß und auf Sócrates wartete, eine Churrascaria im Herzen São Paulos, war ich umgeben von Industriemagnaten, die mit langbeinigen Schönheiten an ihrer Seite, halb so alt wie sie, zu Mittag aßen. 

Kein normales Interview 

Die Legende der brasilianischen Nationalmannschaft von 1982 erschien schlussendlich und setzte sich mir gegenüber auf den Stuhl. Innerhalb von Minuten stellte er klar: „Ich habe drei Idole: Che Guevara, Fidel Castro und John Lennon.“ Ob wir in unserem Gespräch viele Ansichten teilen würden oder nicht, eines wurde mir sofort klar – dies war kein normales Interview mit einem Fußballer.

Der Kapitän der größten Mannschaft, die niemals Weltmeister wurde, war in seinem Element. Er feierte seinen 56. Geburtstag und der Grund für seine Verspätung, wie er mir erklärte, war sein nächtlicher Exzess beim Karneval mit seinen ehemaligen Mitspielern Zico und Éder anlässlich seines Ehrentags. „Zico ist der beste Spieler, mit dem ich je zusammengespielt habe“, so Sócrates. „Und Éder ist noch immer der beste Tänzer des Karnevals.“

Meine Frau begleitete mich auf der Reise. Als Brasilianerin half sie, einige linguistische Hürden zu nehmen. Doch auch für sie war das Treffen mit Sócrates eine neue Erfahrung. „Ich mag diese Frau,“ gab der sechsfache Vater mit gewohnt heiserer Stimme zu, als er auf sie zeigte. Sein jüngstes Kind war nur drei Jahre alt. „Ich möchte ihr ein Gedicht widmen.“ 

Der Protegé

Der Protegé

Erst war Sócrates sein Vorbild, dann sein Mitspieler und enger Freund – bis ein Bruch Walter Casagrande Jr. und Sócrates trennte. Casagrande spricht im Interview über einen Bruch, die nie repariert wurde und dennoch erinnert er sich gern zurück.



Das Gedicht
 

Zum Ende des Interviews zückte Sócrates ein faltiges Stück Papier aus seiner Hosentasche, das handgeschriebene Notizen enthielt. Er begann, das Gedicht, handelnd von Liebe, laut vorzulesen. Als er meiner Frau offenbarte, dass er sich gern vermehrt, dachte ich, sie an ihn zu verlieren. Es wäre eine Geschichte, die, erzählt im Kreis meiner Freunde, Legendenstatus erreichen, mein Leben und meine Ehe jedoch zu einer Tragödie machen würde.

Der praktizierende Arzt hielt sich ein Mal pro Woche in der 12-Millionen-Metropole Südamerikas auf, um in einer Talkshow mit Leidenschaft und Intelligenz über seine nonkonformen Ideale zu sprechen. Er lachte mit dem typisch tiefen Röhren eines jahrelangen Rauchers, seine beeindruckende Statur von 1,90 Meter passte so gar nicht zu dem kleinen Studio mit den tiefen Decken und seiner ungewöhnlich kleinen Schuhgröße 42.

Er hatte auch eine TV-Show in seiner Heimatstadt Ribeirão Preto, eine Flugstunde nördlich von Sampa, in der der ewig sozial aktive Sócrates Politiker, Journalisten, Künstler und Schriftsteller gleichermaßen interviewte. International genoss Sócrates einen fast mythischen Status unter Generationen von Fans aufgrund seiner Leistung bei der WM ’82 in Spanien.

Er wusste sich, auszudrücken

Sie waren verzaubert von seiner Eleganz, seinen typischen Elfmetern, denen zwei kurze Schritte vorangingen, von seinem Namen, seinem Erscheinungsbild mit dem markanten Vollbart, seinen runtergerollten Strümpfen und der Tatsache, dass es immer so schien, als würde er nur zum Spaß auf dem Feld stehen, während er sich nach seiner nächsten Marlboro sehnte. Anders als viele brasilianische Stars war der Spieler, den viele Magrao nannten (langer, dünner Bursche), nicht in Armut aufgewachsen.

Er wusste sich von Beginn an adäquat auszudrücken und war hochintelligent. Er besaß die Fähigkeit, zeitgleich Medizin zu studieren, den São Paulo Clube Corinthians und die Nationalmannschaft als Kapitän, sowie eine politische Bewegung für die Demokratie im eigenen, vom Militär kontrollierten Land anzuführen.

Er sah sogar aus wie eines seiner Idole, Che Guevara. Obwohl hinter dem Vollbart eine ganz andere, mehr weltliche Begründung lag: „Der Bart ist nicht dazu da, Che zu imitieren. Ich habe einfach eine ölige Haut“, gibt Sócrates zu. „Ich sah im Gesicht schrecklich aus und der Bart verdeckt das einfach. Allerdings habe ich einen Sohn, den ich Fidel genannt habe“, führte er grinsend aus, während er ein Stück Steak abschnitt. „Kuba repräsentiert meinen Traum einer Gesellschaft mit gleichen Möglichkeiten für alle, eine gerechte Vision für alle Bürger. Denn trotz der vielen Probleme, die Kuba hat, halten sie an dieser Vision fest. Weil sie an den guten Zweck glauben. Ich finde es äußerst interessant, wie solch ein kleines Land ohne starke Wirtschaft überleben kann und kontinuierlich in der Literatur, der Medizin und dem Sport auf höchstem Niveau ist. Kuba hat mehr olympische Goldmedaillen gewonnen als jedes andere Land in Südamerika. Ich wünschte, ich wäre in Kuba geboren. 

Raí: Im Schatten des Idols

Raí: Im Schatten des Idols

Stellen Sie sich vor, Sie werden Weltmeister und dennoch spricht Sie jeder auf Ihren älteren Bruder an. Für Raí war das nie ein Problem. Weil der Bruder von Sócrates seinen eigenen Weg fand.

Woher kommt der Name?

Sócrates hat seinen Namen seinem Vater zu verdanken. „Mein Vater stammt aus einer sehr armen Familie im Amazonas. Er lehrte sich selbst Lesen und Schreiben. Er las sehr viel. Ein Mann ohne schulische Ausbildung baute eine große Bibliothek auf und befand sich fortwährend in ihr. Ich kann mich an die unzähligen Male erinnern, in denen ich bei ihm saß und ebenfalls in den Büchern las. Er fand großes Interesse an der alten griechischen Philosophie und nannte mich Sócrates. Er wollte alle seine Kinder nach griechischen Philosophen benennen, kannte aber nur drei. Somit waren wir Sócrates, Sófocles und Sóstenes.“ 

Zwei der Söhne wurden Fußballer und trugen die Kapitänsbinde der brasilianischen Nationalmannschaft. Sócrates’ jüngerer Bruder Raí führte das Team von 1994 mit den Größen Romario und Edmundo zum WM-Titel. „1964 erlebten wir einen Militärputsch“, erinnert sich Sócrates zurück. „Ich war ein Kind der Diktatur und schon immer sehr an Politik interessiert. Ich schaute stets auf die soziale Ungerechtigkeit in unserem Land und hatte Freunde, die sich vor dem Militär verstecken oder gar fliehen mussten. Ich hatte einfach Glück, gut Fußball spielen zu können. Das öffnete mir die Türen zu einer anderen, privilegierteren Gesellschaft.“

Sócrates spielte für den Verein Botafogo in seiner Heimatstadt Ribeirão Preto, während er an einer der besten medizinischen Fakultäten Südamerikas studierte. „Was ich am Fußball so sehr mag, ist die soziale Vermischung von Menschen aller Schichten. Er ist demokratisch geprägt, allerdings auch ein Fingerzeig auf das Land, in dem ich lebte. Mir wurde klar, dass ich versuchen musste, Änderung herbeizuführen. Ich spielte während meines Studiums weiter Fußball, auch wenn das zeitlich nicht immer einfach war. Manchmal hatte ich eine Prüfung, wenn Brasilien gegen Argentinien spielte.“ 

Vater von 150 Millionen Menschen

1978 wechselte Sócrates zu Corinthians nach São Paulo, wo er alsbald die Missstände innerhalb der Organisation im Umgang mit den Spielern erkannte. Ein autoritäres Regime, das wie der verlängerte Arm der ungerechten Politik Brasiliens fungierte. „Mit meinem Teamkollegen Wladimir stellte ich mich gegen die Vereinsführung und gründete eine sozialistische Zelle, die wir ‚Demokratie Corinthians‘ tauften“, erklärte Sócrates. „Der Verein wollte die Rechte der Spieler einschränken, um noch mehr Kontrolle zu haben. Wir Spieler wollten allerdings mehr Freiheit und Mitbestimmung. Sie behandelten uns wie Kinder. Über jede noch so kleine Entscheidung wurde fortan demokratisch abgestimmt, was uns ermöglichte, auch die Landespolitik zu beeinflussen.“

1982 gewann Corinthians die Meisterschaft. Auf den Trikots stand der Schriftzug Democracia. „Und als es damals dann endlich auf die Wahlen zuging, hatten wir den Schriftzug ‚Geht am 15. wählen‘ auf dem Rücken. Das war ein unvergesslicher Moment. Das war das größte Team, in dem ich je gespielt habe, weil es mehr war als einfach nur Sport. Fußball war stets nur dann interessant für mich, wenn es einen sozialen Kontext besaß. Meine politischen Errungenschaften bedeuten mir mehr als meine sportlichen. Ein Spiel endet nach neunzig Minuten – das Leben geht jedoch weiter, und es ist real.“ 

Fortan konnte Sócrates seine Beliebtheit und seinen Einfluss als Führungsspieler des größten Klubs in der größten Stadt Brasiliens im eigenen Land geltend machen. Über die Landesgrenzen hinaus wurde er zu einem der Stars der Mannschaft von 1982, von der erwartet wurde, dass sie die Weltmeisterschaft in Spanien gewinnt. „Wir spielten wunderbar“, sagte Sócrates. „Allerdings gab es Spannungen in der Mannschaft, die wir vor dem Turnier lösen mussten. Bleibt diese Rivalität hinter den Kulissen bestehen, teilt sie die Mannschaft, anstatt zu vereinen. Meine unvergesslichste Erinnerung ist das Singen der Nationalhymne vor dem ersten Spiel gegen die Sowjetunion. Ich war der Mannschaftskapitän und Vater von 150 Millionen Brasilianern. Das war der bedeutendste Moment in meinem Leben.“

Die Besten

Der alte Rivale Argentinien wurde in der zweiten Runde mit 3:1 besiegt. „Pelé oder Maradona, diese Frage wurde mir fortwährend gestellt“, so Sócrates. „Das einzige Spiel, das ich gegen den Künstler Maradona bei einer Weltmeisterschaft bestritt, gewann ich auch. Pelé, Cruyff, Maradona, Garrincha – das sind die Besten aller Zeiten.“

Nach Argentinien wartete Italien. Im vielleicht größten WM-Spiel in der Geschichte des Sports schoss Paolo Rossi nach fünf Minuten das erste Tor für Italien. Sócrates glich nach zwölf Minuten aus. Rossi traf in Minute 25 zum 2:1, ehe Falcao, der einzige europäische Legionär Brasiliens, in der 68. Minute zum 2:2 traf. Ein Unentschieden hätte Brasilien zum Halbfinaleinzug gereicht, das attackierte und den Ball wunderschön laufen ließ. Und doch traf Rossi ein drittes Mal und beendete Brasiliens Träume. Noch heute wird das Spiel als „Desaster von Sarrià“ bezeichnet, nach dem Namen des Stadions in Barcelona, in dem es ausgetragen wurde. Italien gewann letztlich im Finale gegen Deutschland.

„Unsere Niederlage gegen Italien war nicht einfach“, gab Sócrates zu. „Als wenn das Herz der schönsten Frau der Welt erobert wird, nur um dann nicht mit ihr zusammen sein zu können. Scheitern, im wichtigsten Moment. Aber das passiert im Sport sowie im Leben. Einige sagen, wir waren das größte Team, das niemals einen Titel gewann. Einige behaupten, dass noch heute mehr über uns geredet wird als über das ‘94er Team meines Bruders, das den WM-Titel holte. Das wunderschöne Team, ausgestattet mit Kunst und Kreativität, verlor. Das Team mit der perfekten Balance aus Emotion, Physis und Können, es verlor.“

Die Niederlage in jener Nacht wurde noch verschlimmert durch den Teambus Italiens, der die Ausfahrt für die Unterlegenen versperrte. Die brasilianische Mannschaft musste Stunden hinter den engen Tribünen des alten Espanyol-Stadions verharren, während die Sieger feierten. Sócrates lief vier Jahre später bei der WM 1986 erneut auf, bewertete das Turnier aber stets als nicht ebenbürtig. „Die Mannschaft von 1982 nahm sich drei Jahre Zeit, um sich zu formieren. 1986 kamen wir innerhalb von zwei Wochen zusammen. Physisch konnten wir nie mithalten. Deswegen haben wir auch nichts gewonnen“, sagte die Legende.

Sócrates hörte während der drei Stunden im Restaurant nie auf, Wein zu trinken. Er hatte gesundheitliche Probleme, die 2011 im Alter von 57 Jahren zu seinem Tode führten. Ein frühes, trauriges Ende eines unglaublichen Lebens.

Auf allen Endgeräten verfügbar: Das Socrates-ePaper

Wenig bezahlen, viel lesen: Das neue Socrates-Abo

Diese Website verwendet Cookies – nähere Informationen dazu und zu Ihren Rechten als Benutzer finden Sie in unserer Datenschutzerklärung am Ende der Seite. Klicken Sie auf „Ich stimme zu“, um Cookies zu akzeptieren und direkt unsere Website besuchen zu können.

Weitere Informationen OK