Lucien Favre ist neuer Trainer von Borussia Dortmund. Der Schweizer gilt als Perfektionist, als Detailversessener. Aber eigentlich will Favre nur spielen. SOCRATES traf den Neu-Borussen im vergangenen Jahr und sprach über seine Art des Fußballs.
Lucien Favre, was mögen Sie am meisten im Fußball?
Den Ball an sich. Ich bin irgendwie in den Ball verliebt. Sobald ich einen Ball sehe, muss ich mit dem spielen. Auch noch heute – bei den Trainingseinheiten spiele ich mit dem Ball, sobald ich einen sehe. Ich jongliere ein bisschen und habe dabei viel Spaß. Für mich ist der Ball wie ein Magnet. Er zieht mich immer an.
[caption id="attachment_2978" align="alignleft" width="241"]Was hat sich Ihrer Meinung nach spielerisch in den vergangenen 10 bis 15 Jahren grundsätzlich verändert?
Nicht so viel. Was die Spielsysteme betrifft, werden sie während des Spiels angepasst. Zum Beispiel fängt man mit einem 4-3-3-System an und nach zehn Minuten wird es zu einem 3-4-3 oder einem 3-4-1-2, was vor ein paar Jahren noch nicht der Fall war, denn da hat man meistens dasselbe System neunzig Minuten beibehalten. Mittlerweile wurden alle möglichen Systeme ausprobiert. Dementsprechend ist es unmöglich, neue Systeme zu erfinden.
Wieso werden die Systeme im Vergleich zu früher so oft verändert?
Es gibt mehrere Gründe: Immer mehr Spieler können auf verschiedenen Positionen spielen, die Außenverteidiger werden zu Flügelspielern, die Flügelspieler spielen mehr in der Mitte und die Defensiv-Mittelfeldspieler agieren zwischen den zwei Innenverteidigern. Der größte Unterschied zu früher ist die Bewegung. Um den Gegner zu überraschen und zu besiegen, muss man schnell und zielstrebig nach vorne spielen. Das Spiel wird immer intensiver. In den 60er Jahren ist ein Spieler im Durchschnitt vier Kilometer gelaufen. Heute spult er zwischen 12 und 14 Kilometer ab.
Ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem die Reaktion auf eine Aktion ein Ende hat, oder dreht es sich immer weiter so wie in den letzten 70, 80 Jahren?
Im Großen und Ganzen dreht es sich wie in den 70er Jahren, nur mit dem Unterschied, dass das heutige Spiel intensiver ist. Und wenn man den Ball um den gegnerischen Strafraum verliert, wird sofort gepresst, um so schnell wie möglich den Ball zurückzuerobern. Das wird bei vielen Mannschaften praktiziert. Das war früher nicht so.
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In welchen Teilbereichen – Ausbildung, Spielerentwicklung – liegen die meisten Potenziale?
Da gibt es einige. Um das Spiel noch schneller zu machen, muss man erst einmal eine gewisse Spielintelligenz haben. Dann kommt die Technik. Um den Ansprüchen gerecht zu werden, muss man auch eine top Kondition haben. In meinen Augen liegt das größte Potenzial in der Ausbildung im technischen Bereich. Ich finde, dass in vielen Klubs in diesem Bereich nicht unbedingt gut gearbeitet wird. Zum Beispiel den Ball in Höchstgeschwindigkeit zu kontrollieren und anschließend sofort einen langen präzisen Diagonal-Ball nach vorne zu spielen, gelingt nicht jedem Spieler. Wenn man es beherrscht, wird der Gegner überfordert. So kann man das Spiel besser und schneller machen. Oder wenn man einen tollen Pass nach vorne in Höchstgeschwindigkeit spielt, um den Gegner zu überraschen, das ist ebenfalls etwas, was mir gefällt. Ein moderner Spieler sollte beidfüßig sein. Die größte Baustelle befindet sich definitiv bei der Technik. Da besteht noch viel Verbesserungsbedarf.
Ist das Dribbling nach wie vor wichtig im heutigen Spiel?
Definitiv. Man macht ja durch ein starkes Dribbling den Unterschied. Schauen Sie sich einfach einen Arjen Robben oder einen Franck Ribéry an, die das drauf haben, egal ob in Eins-gegen-Eins- oder in Eins-gegen-Zwei-Situationen. Diese Art von Spielern ist unheimlich wichtig, weil das Spiel ansonsten langweilig ist. Nur Pässe zu spielen, ist ja nicht spektakulär. Deswegen muss in der Ausbildung der Akzent aufs Dribbling weiterhin forciert werden. Ein Spieler, der zwei Gegner durch ein Dribbling eliminiert und dann einen feinen Pass spielt, das ist der Sinn des Kollektivs. Für mich ist es notwendig, Spieler in seinen Reihen zu haben, die dribbeln können, weil sie jederzeit den Unterschied machen können. Den Unterschied nur mit Pässen zu machen, ist fast unmöglich.
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Wie sieht es mit der Gegner- und Spielanalyse aus. Glauben Sie daran, dass das Spiel immer noch mehr verwissenschaftlicht oder technologisiert wird?
Es ist nicht wirklich mein Ding. Mir ist wichtig, dass das Spiel einfach bleibt. Man sollte diese Sportart nicht kompliziert machen, weil ansonsten die Zuschauer fernbleiben. Nur die Technik sorgt dafür, dass das Spiel schneller und intensiver wird. Wenn man technisch limitiert ist, kriegt man große Probleme, auf dem höchsten Niveau zu bestehen. Dafür muss man schnell antizipieren und handlungsschnell sein. Ich sehe heute noch viele Spieler, die Schwierigkeiten haben, wenn der Ball fliegt und gestoppt werden muss. Da haben viele Spieler etliche Defizite.
Sie vertrauen der Videoanalyse.
Um nichts dem Zufall zu überlassen. Das Wichtigste an den Videos ist, unser letztes Spiel im Detail zu analysieren. Da kann man viele Sachen verbessern. Danach kommt die Analyse des künftigen Gegners: Wie spielt er, was sind seine Stärken, Schwächen und so weiter. Auch wenn wir 5:0 gewinnen, gibt es immer etwas zu analysieren, um individuell und als Mannschaft nach vorne zu kommen.
Wie effektiv ist eigentlich In-Game-Coaching?
Es ist schon wichtig, aber wichtiger bleibt, was der Trainer für eine Arbeit mit seiner Mannschaft unter der Woche leistet: Welche Übungen werden gemacht, auch abhängig vom Spielstil des nächsten Gegners. Aber auch der Spieltag ist wichtig: die Motivation, die Rede in der Halbzeit. Und während der Partie sind Details ebenfalls nicht zu unterschätzen, vor allem was die Taktik betrifft. Deswegen ist das In-Game-Coaching nicht überbewertet. Man muss sich auch für die richtigen Wechsel zum richtigen Zeitpunkt entscheiden, entweder um eine Führung auszubauen oder zu verteidigen, oder um einen Rückstand aufzuholen.
Was ist für einen Trainer im Endeffekt das Wichtigste?
Dass er jeden Parameter jederzeit im Griff hat: Die Beziehung zu seinen Spielern, zu seinen Kollegen, zu seinen Verantwortlichen, zu seinen Mitarbeitern, zu den Schiedsrichtern, zur medizinischen Abteilung und zu den Medien. Man muss immer das Gefühl haben, dass man jederzeit seinen Job im Griff hat und dass man jederzeit weiß, wie man mit seinen Spielern um- geht. Der menschliche Aspekt steht über allem.
Spielt Improvisation ebenfalls eine wichtige Rolle in Ihrer täglichen Arbeit?
Ich würde eher sagen, dass die Intuition sehr wichtig ist. Improvisieren ist schwer, eher planen halte ich für wichtiger.
Haben Sie manchmal nicht den Eindruck, dass die Gefahr besteht, dass sich Ihre Spieler bei den Trainingseinheiten langweilen?
Das gehört auch zur Aufgabe des Trainers, dass er alles daransetzt, damit die Übungen genug variieren, damit man kreativ ist. Das ist in der täglichen Arbeit natürlich sehr wichtig. Auch ein Trainer muss für sich schauen, dass er jeden Tag dazu lernt, sei es im Umgang mit seinen Spielern oder ein spielerisches Element betreffend. Als Trainer muss man sich permanent hinterfragen, um nicht zu stagnieren. Sonst kann man nicht dauerhaft Erfolg haben.
Kann sich ein Trainer nach einer bestimmten Zeit langweilen?
Damit es nie langweilig wird, muss man sich die wichtigste Frage stellen: Was kann ich jeden Tag besser machen? Diese Frage stelle ich mir tagtäglich. Deswegen habe ich seit ein paar Jahren Erfolg auf höchstem Niveau und auch jeden Tag Spaß bei meiner Arbeit. Man muss auch ständig seinen Horizont erweitern, nicht nur in Europa schauen, wo ich bereits die französische, die deutsche, die englische, die portugiesische und die Schweizer Meisterschaft intensiv verfolge, und Italien ist von Nizza auch nicht weit weg, sondern auch mal Spiele oder Trainingseinheiten auf anderen Kontinenten unter die Lupe nehmen. Es gibt immer wieder was Neues zu entdecken. Ich bin immer sehr hungrig und neugierig aufs Neue.
Als Sie Ende der 80er Jahre bei Servette Genf auf einem Zimmer mit Karl-Heinz Rummenigge waren, hatten Sie schon damals vor, irgendwann mal Trainer zu werden?
Nein, nicht wirklich. Mit Karl-Heinz habe ich viel diskutiert über die mögliche Aufstellung unseres Trainers, wie unser nächster Gegner spielen würde und so weiter. Wir waren zwar Spieler, aber wir waren bereits an vielen taktischen Dingen interessiert.
Wie fingen Sie als Trainer an?
1991, als ich 34 Jahre alt war, habe ich bereits über meine Zukunft nach der Spieler-Karriere nachgedacht. Erst habe ich Jugendmannschaften trainiert und es hat mir sofort gefallen. Das war entscheidend für den weiteren Verlauf meiner Karriere. Danach habe ich mich um ein Drittliga-Team gekümmert und so weiter. Wenn man 32, 33 Jahre alt ist, ist es sehr wichtig, dass man an seine Zukunft denkt, sonst wird es schwer. Heute dauert eine Spieler-Karriere ungefähr zehn Jahre und alles wird schneller, insofern sollte man sich unbedingt auf seine Zukunft vorbereiten, um den Zug nicht zu verpassen. Wenn man als Spieler nur auf die Karriere fokussiert ist und sich nicht schon mal umschaut und Gedanken über die eigene Zukunft macht, dann wird es schwer. Das ist ein Tipp an alle Spieler.
Wissen Sie eigentlich, wie viele Stunden Sie täglich arbeiten?
Ich zähle nicht. Für mich ist mein Job nur Spaß. Was mir am meisten gefällt, ist die Arbeit auf dem Platz. Ich würde nur zählen, wenn ich mich langweilen würde.
Brauchen Sie die tägliche Arbeit auf dem Platz oder wären Sie auch mal für einen Job als Nationaltrainer zu begeistern?
Ehrlich gesagt habe ich mir diese Frage noch nie gestellt. Ich liebe meinen Job als Vereinstrainer. Aber man weiß nie, was die Zukunft bringt.
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