Jochen Sauer, warum sollte ein Toptalent zum Campus des FC Bayern wechseln?
Wir müssen dem Spieler aufzeigen, was wir ihm zu bieten haben. Nicht nur in Sachen Infrastruktur, sondern vor allem inhaltlich. Wir zeigen dem Spieler, was uns von anderen Standorten unterscheidet und wie unser Ausbildungsprogramm aussieht. Denn hinter den Werten, die da drin verankert sind, stehen wir auch.
Sie haben die Spieler, die Sie nach München holen wollen, wahrscheinlich schon ein paar Mal spielen sehen. Geht es in den Bewerbungsgesprächen dann trotzdem noch ums Sportliche oder rein um die persönliche Ebene?
Wenn wir die Gespräche führen, sind wir sportlich schon einen Schritt weiter. Wenn wir zum Kennenlernen einladen, dann geht es darum, dem Spieler vor Ort alles zu zeigen. Beispielsweise, dass er auch mal die Allianz Arena oder die Stadt München sieht. Man muss versuchen, ihm das gesamte Umfeld näherzubringen. Das ist vor allem im Interesse der Eltern, die wissen wollen, wie es mit der Schule aussieht oder wie ihr Kind vom Zuhause zum Campus kommt. Es geht also um mehr als um das Sportliche.
Was machen Sie, wenn ein Spieler sportlich überragend ist, aber es Bedenken auf der persönlichen Ebene gibt?
Da müssen wir abwägen. Wenn wir den Eindruck haben, dass es Dinge sind, die wir als Team in den Griff bekommen können, dann akzeptieren wir das. Wenn wir allerdings den Eindruck haben, dass ein Spieler den kompletten Laden durcheinanderbringen kann, dann könnte es schwierig werden. Beide Aspekte spielen eine Rolle. Unsere Scouts achten bei der Spielerbeobachtung auch auf sein Verhalten auf dem Platz und neben dem Platz.
Wie?
Wie reagiert er nach einem Spiel? Ist er ein Einzelgänger oder gehört er zur Gruppe? Klatscht er ab? Das sind alles Dinge, die beobachtet werden. Es gab auch schon Kennenlerntage, an denen der Trainer gesagt hat: „Super Spieler“, aber hatte dann auf der persönlichen Ebene große Bedenken. Dann passt es einfach nicht.
Im deutschen Fußball wird oft – vielleicht auch etwas plakativ – das Fehlen von „echten Typen“ kritisiert. Darf es diese im Campus des FC Bayern geben?
Absolut. Wir versuchen Spieler von außergewöhnlicher Qualität in den höheren Altersklassen ins Internat zu holen, von der U9 bis U12 bzw. U13 konzentrieren wir uns ausschließlich auf den Raum München. Aber mit zunehmendem Alter kommen dann auch Spieler aus ganz Bayern hinzu, bei denen wir davon ausgehen, dass sich der Aufwand lohnt, ins Internat zu ziehen oder sie per Shuttle Service von ihrem Zuhause abzuholen. Da reden wir dann vornehmlich von den Altersklassen zwischen der U14 und U16. Da müssen wir ins ganze Bundesgebiet schauen, um später in der U19 und im Übergangsbereich zum Herrenfußball auf dem Top-Niveau mithalten zu können. Und wenn ich von Spielern von außergewöhnlicher Qualität rede, dann sind diese auch oft sehr individuell und haben eine ausgeprägte Persönlichkeit. Das wollen wir nicht unterdrücken, aber wir müssen uns auch immer zutrauen, dass wir diese Spieler mit all ihrer Individualität auch in die Mannschaft integrieren können.
Hätte ein Straßenfußballer die Chance, in einem Nachwuchsleistungszentrum Fuß zu fassen?
Ich glaube schon, gerade weil Straßenfußballer ja auch eine gewisse Kreativität und fußballerische Fähigkeiten mitbringen, die nicht bei jedem vorhanden sind. Bei den Bayern hat es immer Fußballer gegeben, die mit dem Ball umgehen können, die eigenwillig und kreativ sind: James Rodriguez, Franck Ribéry oder Arjen Robben sind da nur ein paar Beispiele. Diese Spieler wollen wir haben. Diese Spieler sind heute vielleicht anders als vor 20 Jahren. Das Fußballspielen haben sie alle nicht nur durch das Training im Verein, sondern durch das Kicken auf der Straße oder nach der Schule gelernt. Diese Typen gibt es immer wieder, der Begriff „Straßenfußballer“ wird heute aber anders definiert als noch vor 20 Jahren.
Befürchten Sie, dass Jugendspieler zu sehr in Schablonen gesteckt werden? Es gibt Prototypen von Stürmern, Außenverteidigern, Innenverteidigern und alle können das Gleiche – oder eben nicht.
Die Diskussion wird gerade insgesamt, vor allem in Deutschland, geführt. Bedingt natürlich auch durch das etwas schlechtere Abschneiden der Junioren- und A-Nationalmannschaft in der jüngeren Vergangenheit. Die Basis des Fußballs hat sich bis auf Nuancen nicht verändert, wir spielen immer noch Elf gegen Elf, das Feld ist gleich groß und Abseits ist Abseits. Das Schematische trifft auf Deutschland aber schon zu, wenn wir über mannschaftstaktische Themen sprechen. Bei den ganzen Analysen im Fernsehen wird sehr, sehr viel über Taktik gesprochen. In dieser Diskussion über mannschaftstaktische Systeme geht dann vielleicht etwas verloren.
Und was?
Dass es auf dem Platz ums Gewinnen geht. Dass es gewisse Positionen gibt, auf denen gewisse Fähigkeiten verlangt werden. Es wird immer bemängelt, dass es in Deutschland keine Mittelstürmer gibt. Das liegt daran, dass man vielleicht vergessen hat, den Stürmern die Basics ihrer Position beizubringen. Wir haben uns in den letzten Jahren vielleicht zu wenig um die technischen und fußballerischen Grundlagen der Positionen gekümmert und zu sehr um mannschaftstaktische Muster.
Ist dies auch der Grund, warum der FC Bayern in der Jugend keine Nachfolger für Franck Ribéry und Arjen Robben gefunden hat?
Wir reden bei Robben und Ribéry ja nicht darüber, dass sie sich taktisch immer „schulmäßig“ verhalten, sondern dass sie Überraschendes machen, ein überragendes Eins-gegen-eins haben. Das beste Beispiel ist Robben. Jeder weiß eigentlich was er macht, aber trotzdem kann ihn niemand stoppen. Wir müssen die Punkte, die einen Spieler auf einer Position Weltklasse machen, wieder mehr in den Vordergrund stellen. Dazu eine kleine Anekdote.
Gerne.
Als ich mit Hermann Gerland die erste Begehung auf dem Gelände des Campus, damals noch im Rohbau, gemacht habe, hat er direkt gefragt: „Wo sind hier die Kopfballpendel?“ – und hat dann direkt für jeden Trainingsplatz einen bestellt. Da haben sich alle, die mit dabei waren, am Kopf gekratzt, mich eingeschlossen. Ich habe dann drüber nachgedacht und ihm Recht gegeben, denn der Kopfball gehört für den Mittelstürmer oder den Innenverteidiger zum grundlegenden Handwerkszeug. Und das kann ich mit dem Kopfballpendel heute genauso gut und effizient trainieren wie vor 30 Jahren. Übung macht den Meister…
Hat man in deutschen Nachwuchsleistungszentren die Individualität wegtrainiert?
Die Schwerpunkte wurden eventuell nicht immer richtig gesetzt. Wir haben in den Zentren, bedingt durch den Tagesablauf der Spieler mit Schule, Fahrstrecken und Familienleben, nur wenige Stunden am Tag, um mit den Jungs zu trainieren. Wenn da die Schwerpunkte nur zu ein paar Prozent falsch gesetzt werden, dann wird die Individualität auch mal schnell vernachlässigt. Aber wegtrainiert wird sie sicher nicht!
Haben Sie beim FC Bayern schon damit angefangen, dem entgegenzuwirken?
Ja, wir haben auch unseren Trainingsablauf hinterfragt. Wir haben früh gesagt, dass wir mehr Individualtraining machen wollen, haben aber schnell festgestellt, dass es im Wochenplan der Spieler dafür kaum Zeit gibt. Der Spieler, der am Campus wohnt, hat es da sicherlich einfacher. Die Jungs, die mit dem Shuttle-Bus anreisen oder einen längeren Fahrtweg innerhalb Münchens haben, haben es schwieriger. Wir setzen es schrittweise um, machen bspw. individuelles Stürmertraining mit unserem U17-Trainer Miroslav Klose und auch mit Hermann Gerland. Da gibt es zwei Gruppen: U11 bis U15 und U16 bis U19.
Ist Miroslav Klose genau wegen dieser speziellen Fähigkeiten zum FC Bayern gekommen?
Das war nicht die ursprüngliche Überlegung, Miroslav Klose wollte schlichtweg Jugendtrainer werden und er hat eben eine enge Verbindung zum Verein als langjähriger Bayern-Spieler. Aber natürlich schauen wir, welche Trainer nochmals bestimmte Fähigkeiten besonders fördern können. Da hat ein Miroslav Klose als Weltklassestürmer oder ein Hermann Gerland mit seiner Riesenerfahrung natürlich einen ganz anderen Einfluss auf die Jungs.
Timo Werner hat mit SOCRATES vor der WM 2018 ebenfalls über das Training mit Klose gesprochen und gesagt, dass er durch ihn völlig neue Laufwege gelernt hat. Muss noch mehr auf diesen Erfahrungsschatz vertraut werden?
Wir haben nach einer schlechten Phase Anfang 2000 das Konzept der Nachwuchsleistungszentren entwickelt, weit vor anderen Nationen. Aber vielleicht haben wir in den letzten Jahren darauf auch zu sehr vertraut. Wir haben zunächst die richtigen Schlüsse gezogen, aber dann versucht, es zu sehr zu perfektionieren und in Schemata oder Strukturen zu gießen. Wir müssen anfangen, unsere Konzepte offen zu halten und auch wieder Einflüsse von außen zuzulassen. Wir müssen zum Beispiel hinterfragen, was Frankreich oder England vor ein paar Jahren, als die jetzigen jungen Jahrgänge in die entscheidende Phase gegangen sind, besser gemacht haben als wir.
Und es sind ja auch nicht nur die Franzosen und die Engländer, die sehr viel richtig machen.
Ja. Da sind die Belgier, auch die Niederlande sind wieder am Kommen Letztere auch nach einer Phase des Misserfolgs. Das beste Beispiel ist Ajax, die wir in meiner Zeit in Salzburg vor vier Jahren im Achtelfinale der Europa League klar rausgeworfen haben. Das Team von damals ist nicht zu vergleichen mit dem heutigen und Spielern wie Frenkie de Jong oder Matthijs de Ligt, die aus der Akademie kommen. Diese Phasen gibt es in jeder Fußballnation immer wieder und ein schlechtes Abschneiden bei einem großen Turnier ist für neue Ideen und das Hinterfragen des eigenen Konzeptes vielleicht gar nicht so schlecht.
Wie sehr sind die Nachwuchsleistungszentren mitschuldig am schlechten Abschneiden der deutschen Nationalmannschaft bei der WM 2018?
Es ist nicht ungewöhnlich, dass eine Spielergeneration, die zuvor erfolgreich war, auch mal ein schlechtes Turnier spielt. Es war in diesem Fall sicherlich dramatisch, weil niemand im Kopf hatte, dass ein Ausscheiden in der Vorrunde überhaupt möglich ist. Wenn man diese Mannschaft nimmt, dann muss man auch sagen, dass die Zentren vor allem in ihrer Anfangsphase überragende Arbeit gemacht haben. Das gute Abschneiden und die Erfolge der Nationalmannschaft in den letzten Jahren waren eher ein Erfolg für die Zentren. Wenn man aber auf die letzten Ergebnisse der Jugendnationalmannschaften schaut, dann sind die Nachwuchsleistungszentren mitverantwortlich. Da haben andere Nationen eben aufgeholt und hervorragende Arbeit geleistet.
Dass es neue Ideen braucht, liegt auf der Hand. Gibt es sie auch?
Es gibt wahnsinnig viele Ansätze, die wir diskutieren müssen, teilweise müssen die einzelnen Vereine aber selbst entscheiden, welchen Weg sie gehen. Für uns ist es aktuell gut, dass wir immer wieder Spieler ins Profi-Training schicken können. Dass die zunächst nicht ganz mit dem Tempo der Profi-Mannschaft mithalten können, ist klar, denn das können wir im Training im Nachwuchs nicht simulieren. Aber wir können genau sehen, wo es noch hapert und woran wir arbeiten müssen. Wir müssen die Jungs z.B. auch physisch besser vorbereiten, damit sie dranbleiben können und ihnen nicht nach 60 Minuten bei den Profis die Luft ausgeht.
Ihr Job wird darauf reduziert, dass sie aus Jugendspielern Profis machen. Ist das fair?
Spieler in den Profi-Bereich zu bekommen, ist unsere Zielsetzung und unsere Aufgabe. Es können aber nicht jedes Jahr drei oder vier Spieler zu den Profis aufsteigen, dafür ist die Qualität in der Profimannschaft zu hoch und die Kapazitäten im Kader sind begrenzt. Es gibt dafür auch keinen Plan mit Erfolgsgarantie. Ich kann nicht sagen: „Wenn wir das oder das richtig machen, dann wird aus dem Spieler ein Bayern-Spieler.“ Die Typen sind auch ganz unterschiedlich. Da gibt es den Thomas Müller, der sich direkt oben durchsetzt, weil er die Qualität und die Einstellung hat, aber auch weil es einen Trainer gab, der junge Spieler gefördert hat oder weil der Spieler das Glück hatte, dass er im ersten Spiel richtig stand und den Ball ins Tor geschossen hat. Oder weil ein Spieler auf seiner Position verletzt war. Und dann gibt es einen Philipp Lahm, der erst zwei Jahre in Stuttgart gebraucht hat, um Bayern Spieler zu werden. Da gibt es so viele Variablen, die wir nicht beeinflussen können. Intern weiß das jeder und außerhalb werden Menschen, die sich mit dem Jugendfußball auseinandersetzen, das auch verstehen.
Im April 2018 standen mit Lukas Mai, Niklas Dorsch, Meritan Shabani und Franck Evina gleich vier Spieler aus dem NLZ in der Startelf des FC Bayern – im Bundesliga-Spiel gegen Eintracht Frankfurt. Das Highlight für Sie?
Auf jeden Fall war es ein schöner Moment, denn unser erstes Ziel ist es, unsere Spieler in der Allianz Arena spielen zu sehen. Aber es war weniger eine Freude, sondern man ist extrem angespannt. Man drückt die Daumen, dass sie eine gute Performance abliefern und keine groben Fehler machen oder ein Gegentor verschulden. Nach dem Spiel war es eher eine Erleichterung, weil sich alle gut geschlagen haben.
Brennen Ihre Jugendspieler mehr, wenn der Profikader nicht ganz so üppig besetzt ist?
Wir weisen die Jungs natürlich darauf hin, wie die Kadersituation bei den Profis ist und dass der Bayern-Kader kleiner ist als bei anderen Topklubs in Europa. Wir haben fast ausschließlich Nationalspieler im Profi-Kader, das eröffnet in Länderspielpausen automatisch Chancen für unsere Spieler, am Training teilnehmen zu dürfen. Und wir erklären ihnen, dass die Leistung im Training und in den Spielen vor der Länderspielpause eine Chance ist, sich für ein Training mit den Profis zu empfehlen.
Haben Sie die letzten Jahre der Jugendarbeit beim FC Bayern, in der viele Personen gekommen und schnell wieder gegangen sind, nicht ein wenig abgeschreckt?
Natürlich verfolgt man das, durch die regionale Nähe von Salzburg zu München schaut man natürlich auch immer, was beim FC Bayern gemacht wird. Wir haben auch mit den Nachwuchsteams viel gegeneinander gespielt und die Bayern natürlich als Konkurrenz betrachtet, denn sie sind für Salzburg der einzige echte Gradmesser in 200 Kilometer Umgebung. Natürlich haben die Bayern viel ausprobiert – aber genau deswegen habe ich mich auch dafür entschieden, die Herausforderung anzunehmen. Denn die Jugendarbeit ist vielleicht der Bereich, in dem die Bayern noch nicht an der Decke sind. Und das ist vielleicht eine Chance, Sachen auszuprobieren, einen neuen Weg einzuschlagen und als Nachwuchsabteilung besser zu werden.
Ist ihre Skepsis inzwischen verschwunden?
Eine Skepsis war nicht vorhanden, aber man hatte Respekt vor der Aufgabe. Aber wir haben ein sehr gutes Team und sind über die Ebenen gut miteinander vernetzt. Das neue Nachwuchsleistungszentrum ist nochmal ein Ansporn, mehr zu bewegen. Und wir haben im letzten Jahr schon einiges bewegt, aber natürlich besteht noch großes Potenzial, sich weiter zu entwickeln.
Der Campus soll das Sprungbrett für die# FC-Bayern-Spieler von morgen sein. Ist er auch ein Sprungbrett für Sie?
Ich habe diesen Schritt als wahnsinnige Herausforderung empfunden. Mein Ziel ist es, dass wir es wieder schaffen, Jugendspieler in die Allianz Arena zu bekommen. Ähnlich wie bei Salzburg habe ich das Gefühl, hier etwas entwickeln zu können. Der FC Bayern hat im Bereich Jugendfußball in den letzten Jahren nicht immer am Limit gearbeitet. Wir versuchen, ihn wieder auf das höchstmögliche Niveau zu bringen. Das ist mein und unser Ziel.
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