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Gruß von Hakan

Gruß von Hakan

Hakan Biçici spielte einst für Hannover 96 im Europapokal. Vor acht Jahren verletzte er sich schwer und liegt seither im Wachkoma. Was ist von seinem Leben noch übrig?


Der Artikel erschien in Ausgabe #12 im Oktober 2017.

Neulich hat Fatma von Hakan geträumt. Ihr Sohn rannte auf sie zu und gab ihr einen Kuss. So wie er das früher immer gemacht hat. Hakan erzählte seiner Mutter von seinem Tag, er lachte. Dann wachte Fatma auf. Sie stand auf und ging zu ihrem Sohn. Fatma Biçici ist eine kleine Frau mit kurzen grauen Haaren, sie ist 65 Jahre alt. Aber sie ist stark. Sie hob den Oberkörper ihres Sohnes an, dann die Hüfte, die Beine. Damit er sich nicht wund liegt. Sie wischte ihm den Mund, weil er das nicht mehr selbst kann. Dann gab sie ihm einen Kuss. Hakan reagierte nicht, er schaute starr geradeaus. Fatma ging wieder schlafen.

Hakan Biçici war mal ein Star. Er war nie deutscher Meister, nie Nationalspieler und als sein Verein sensationell den DFB-Pokal gewann, hatte ihn der Trainer gerade bei einem anderen Klub geparkt. Hakan Biçici war trotzdem ein Star. Weil er eleganter mit dem Ball umgehen konnte als manch Nationalspieler. Weil er Spielmacher war und Spielmacher geliebt werden. Und auch weil er Türke war und in Hannover lebte. Die türkische Gemeinde ist groß in Mittelniedersachsen und auf dem Höhepunkt seiner Karriere, Anfang bis Mitte der neunziger Jahre, war Biçici neben dem Musikproduzenten Mousse T. der bekannteste und beliebteste Türke der Stadt.

Als Regisseur von Hannover 96 spielte er vielleicht nicht immer den erfolgreichsten, dafür aber schönen und aufregenden Fußball. Wenn er durch Hannover bummelte, wollten die Kinder ein Autogramm und die Eltern meistens auch. Sie bewunderten seine Energie und seine Tricks. Wenn er seine 1,67 Meter in Bewegung setzte, den Ball mehr streichelte als trat, dann schlackerte das Trikot an seinem Körper und flatterten die langen dunklen Haare im Wind. Er spielte in Celle, in Braunschweig, in der Türkei, aber die große Liebe blieb 96. 1998, schon im Herbst seiner Karriere, warf er in seinem allerletzten Spiel für Hannover noch einmal alles in die Waagschale.



Der kleine Star

„Vor allem Hakan Biçici rechtfertigte seine Nominierung“, lobte die Berliner Zeitung nach dem zweiten Relegationsspiel um den Aufstieg in die 2. Bundesliga. An der Seite von Gerald Asamoah, Otto Addo und Dieter Hecking kämpfte der Techniker gegen das 0:2 aus dem Hinspiel gegen Tennis Borussia Berlin, und wurde nach 61 Minuten für Vladan Milanović ausgewechselt, dem kurz vor dem Abpfiff per Fallrückzieher das 2:0 gelang. Im Elfmeterschießen schaffte 96 den Aufstieg, die Partie gilt als eine der emotionalsten der Vereinsgeschichte.

Das war Hakan, der Fußballer. Der Lebemann. Der kleine Star. „Diesen Hakan“, sagt seine Tante Hülya Häseler, „gibt es nicht mehr.“ Auch sie hat neulich von ihm geträumt. Wie sie zusammen eine Zigarette rauchten und lachten. Aber auch diesen Hakan gibt es nicht mehr. Im November 2012 hat Hakan Biçici seine Karriere längst beendet. Ab und an jobbt er in einem Wettbüro oder arbeitet für die Fußball-Schule von Hannover 96. „Hakan war wie ein ADHS-Kind“, sagt seine Tante, die 1967 in Hannover geboren wurde und mit dem nur drei Jahre jüngeren Neffen aufwuchs. „Er war immer voller Energie, immer gut drauf, mit ihm hattest du immer Spaß. Aber er konnte auch sehr nachdenklich sein, wir hatten viele tiefgründige Gespräche.“

Er hat eine Tochter, die zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt ist, beide sind schwer verliebt ineinander. Biçici will Spielerberater werden und ist mal wieder in der Türkei. Von seinem ehemaligen Mitspieler und Kumpel Fabian Ernst, der bei Kasımpaşa Istanbul spielt, hat er sich einen VW T4 geliehen, auch wenn Ernst den Wagen erst nicht rausrücken wollte. Gemeinsam mit einem Freund fährt er am 26. November durch Adana, ganz im Süden der Türkei, nicht weit von der syrischen Grenze entfernt.



Der Unfall

Warum das Auto von der Straße abkommt, ist bis heute nicht geklärt. Neben der mehrspurigen Straße verläuft ein trockenes Kanalbett. Hier stürzt der Wagen mit Biçici am Steuer in den Abgrund und überschlägt sich. Dem Beifahrer passiert wie durch ein Wunder so gut wie nichts. Nach zwei Tagen wird er mit wenigen Schürfund Schnittwunden aus dem Krankenhaus entlassen. Sein Freund ist schwer verletzt. Sanitäter bringen den ehemaligen Fußballer ins Krankenhaus, nach einer Erstversorgung kontaktieren die Ärzte seine Angehörigen.

Hülya Häseler weiß noch genau, wie sie die Nachricht erhielt, dass ihr „Haki“ einen Unfall hatte. Wie sie wie ferngesteuert weitere Familienmitglieder informierte und einen Flug nach Adana buchte. Wie sie auf der Fahrt ins Krankenhaus betete, obwohl sie nicht sehr gläubig ist: „Lass das nicht wahr sein.“ Wie sie feststellen musste, dass die Wahrheit noch viel schlimmer war, als sie befürchtet hatte. Neben diversen Knochenbrüchen war der Schädel ihres Neffen so schwer verletzt, dass er nicht bei Bewusstsein war. Für ein künstliches Koma fehlten den Ärzten die Mittel, statt auf der Intensivstation lag der Schwerverletzte in einem Raum mit anderen Patienten.

Zurück in Deutschland eilte sie mit den Befunden aus der Türkei in die Medizinische Hochschule nach Hannover, einer der zuständigen Professoren willigte schließlich in das Risiko einer Überführung aus der Türkei ein. Die dafür notwendigen 32.000 Euro kratzte die Familie irgendwie zusammen, eine Unfallversicherung hatte Hakan Biçici nicht besessen. Zwölf Tage nach dem Unfall, am 8. Dezember 2012, kam Biçici zurück in seine Heimatstadt. Spezialisten versetzten ihn in ein künstliches Koma und versuchten, mit Operationen den Druck vom verletzten Schädel zu nehmen. Zurück in sein altes Leben konnten sie ihn aber nicht holen. Die Diagnose: reaktionslose Wachheit. Wachkoma. Nahezu vollständige Lähmung der Gliedmaßen. Ernährung über eine Magensonde. Starke Beeinträchtigung der Wahrnehmungsfähigkeit. Ein Pflegefall.

Der kleine Gruß

Als Hülya Häseler das erste Mal an das Krankenbett in der Hochschule trat und die schlaffe Hand ihres scheinbar geistesabwesenden Neffen nahm, musste sie weinen. Dann verspürte sie einen leichten Druck an der Hand. Hakan hatte sie trösten wollen, ein kleiner Gruß aus einer unergründlichen Parallelwelt. Mehr als vier Jahre später findet in Langenhagen bei Hannover ein Benefizturnier für Hakan Biçici statt. Werder Bremen, St. Pauli, der HSV und natürlich Hannover 96 sind da. Eine Mannschaft heißt „Hakans Family“ und ist mit Familienmitgliedern und Freunden der Familie besetzt.

Der NDR dreht eine Reportage für die Sendung Sportclub, man sieht Fabian Ernst, Ivan Klasnić oder Carsten Linke erst Tore schießen, dann Bratwurst essen. Die Halle gehört dem ehemaligen 96er Frank Hartmann. Die Einnahmen, 10.000 Euro sind es am Ende, werden dem ehemaligen Fußballer gespendet. Die Familie ist auf das Geld von Spenden oder von solchen Veranstaltungen angewiesen, die Krankenkasse bezahlt nur die Basis-Versorgung, zusätzliche Therapien wie die Delfin-Therapie in der Türkei, bei der Hakan eigenständige Bewegungen und Reaktionen gelungen waren, die man schon gar nicht mehr für möglich gehalten hatte, sind teuer und müssen selbst finanziert werden. Zum Glück haben ihn die Menschen nicht vergessen, auch wenn selbst 10.000 Euro bei einem solchen Krankheitsbild lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein sind. 

Hakan Biçici ist auch da. Seine Mutter – sie sorgt rund um die Uhr für ihn – und seine Tante fahren ihn in einem speziellen Rollstuhl in die Halle. Die Augen sind weit aufgerissen, das Gesicht regungslos, Fatma Biçici muss ihrem Sohn regelmäßig Spucke aus den Mundwinkeln wischen. Und trotzdem sieht er nicht wirklich krank aus. Die Haut hat eine gesunde Farbe, die Haare sind immer noch voll und dunkel, er ist dünner geworden, aber nicht hager.

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Das neue Leben

Bei der Wassertherapie neulich, erzählt Hülya Häseler, habe sie die anderen Patienten betrachtet und ihrem Neffen dann zugeraunt: „Haki, wenn das hier ein Wachkoma Schönheitswettbewerb wäre, dann hättest du gewonnen.“ Und Haki hatte seinen rechten Mundwinkel nach oben gezogen. Hier, in der Soccerhalle in Langenhagen, sieht er eher aus wie jemand, der etwas ziemlich Verrücktes gesehen hat und dem dabei der Gesichtsausdruck eingefroren ist. 

Vielleicht hat er das ja. Aber wer weiß das schon. Das Schlimmste an diesem Zustand ist für die Angehörigen nicht unbedingt die körperliche Versehrtheit. Aber wenn das geschädigte Hirn eine normale Kommunikation unterbindet und alle Beteiligten, Mediziner inklusive, vor ein Rätsel stellt, dann ist das nur schwer zu ertragen. Auf einem Restaurantboot in Berlin spricht Hülya Häseler darüber. Ein Großteil ihres Lebens hat sie seit dem Unfall ihrem Neffen verschrieben. Während ihre Schwester, Hakans Mutter, vor allem die direkte Pflege übernimmt,

ist Häseler eine Art Manager geworden. Sie organisiert die Reisen zur nächsten Therapie,  nimmt die Schecks bei den Benefizveranstaltungen entgegen, ist Kontaktperson und Interviewpartner. Sie und ihre Familie mussten damit klarkommen, dass aus dem quirligen Wirbelwind ein hundertprozentiger Pflegefall geworden war, der die meiste Zeit scheinbar nicht bei Bewusstsein ist. „Ich hatte irgendwie gehofft“, sagt sie, „dass alles wieder gut wird, wenn Hakan erstmal in Deutschland ist. Das war natürlich eine Illusion.“

Die "Scheiß-Prüfung"

Nur: Was ist jetzt gut, was ist jetzt schlecht? Die Verhältnisse haben sich verschoben. „Neulich“, erzählt Häseler, „hat er mir nach einem schönen Tag aus heiterem Himmel einen Kussmund zugeworfen, das hat mich unglaublich glücklich gemacht.“ Dann zeigt sie ein Video, auf dem Biçici zwei Finger zum Mund führt und seine Tante ihm eine Zigarette zwischen die Lippen steckt. Nur für den Geschmack, nur für die kurze Erinnerung an das frühere Leben – und daran, dass sehr wohl noch Leben in diesem manchmal scheinbar leblosen Körper und Geist steckt. „Auch unser Leben hat sich komplett geändert“, sagt Häseler und erzählt, dass die Behinderung ihres Neffen sie bewusster leben lasse. Denn aus seiner Perspektive ist selbst der Gang zur Toilette ein unerreichbarer Luxus. 

Nicht alle sind damit klargekommen, dass der frühere Fußballer nicht mehr tricksen, tanzen, rauchen, lachen, feiern kann, dass so viel Leben aus ihm gewichen ist, dass sie es nicht ertragen können, in seiner Nähe zu sein. Es gibt Freunde, ehemalige Mitspieler oder Geschäftspartner, die sich von Hakan Biçici, dem Wachkoma-Patienten, abgewandt haben. Auch damit müssen seine Angehörigen zurechtkommen. Sie selbst haben Wege gefunden, mit dem Istzustand umzugehen. Fatma, Biçicis Mutter, ist sehr gläubig, für sie ist der Unfall ihres Sohnes eine Prüfung, die es zu bestehen gilt. Nur in den wenigen Stunden des Schlafs gönnt sie sich ein paar Träumereien. Auch Hülya Häseler spricht von einer Prüfung, „einer Scheiß-Prüfung“, empfindet die aber eher auf spiritueller denn auf religiöser Ebene: „Vielleicht soll uns das als Familie zusammenbringen, vielleicht das Leben noch bewusster gestalten.“ Alle, die mit Hakan zu tun haben, geben die Hoffnung nicht auf. 

Die Hoffnung auf ein Wunder. Dass sie ihr Sohn, Neffe, Cousin, Kumpel irgendwann aus wachen Augen anschaut und nach den Ergebnissen des letzten Zweitliga-Spieltags fragt und wieder der Alte ist. Oder zumindest wieder sprechen kann. Die Beine bewegen. Irgendwas. Hat es ja alles schon gegeben. 

Das „Mövenpick“ in Hannover ist nicht zu übersehen, es thront in der Fußgängerzone und gehört zu dieser Stadt wie dieser kleine kranke Mann, der gerade durch die Tür geschoben wird. Beim Benefizkick hatte sich die Gelegenheit, Hakan Biçici aus nächster Nähe kennenzulernen, nicht ergeben. In Berlin war er nicht dabei. Seine Mutter richtet noch einmal die Kopfstütze und bestellt dann einen Kaffee. Ihre Schwester sitzt daneben. Der Besucher erinnert sich an ein Interview, dass er vor sechs Jahren mit Biçici führte. Es ging um die Europapokal-Teilnahme mit Hannover 1992 und dem unglücklichen Los in Runde eins gegen Werder Bremen. Ein gut gelaunter ehemaliger Spielmacher erinnerte sich damals an das Geschenk, das 96 seinen Eurofightern überreichte: eine Uhr von Maurice Lacroix, 1000 D-Mark wert. „Die hast du immer noch, stimmt‘s, Haki?“, fragt seine Tante.

 Haki bleibt stumm. Sein Gesicht bewegt sich nicht. Die Augen sind geöffnet und scheinen einen fernen Punkt zu fixieren. „Die Uhr, Haki. Die Europapokal-Uhr!“

Hat er da gerade gelächelt?

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