Die Liebe lässt einen manchmal waghalsige Dinge tun. Jack Marquez zum Beispiel. Es ist Mai 2015, und wir stehen neben Jack am Tresen einer Bar in Oklahoma City, dem einzigen Laden, der heute Abend noch geöffnet ist: Coyote Ugly. Um uns herum taumeln und toben die Betrunkenen, alles Männer, die meisten tragen Trikots der Oklahoma City Thunder. Die Reste des Jubelfests, die Reste der Nacht. Sie feiern den Sieg der Thunder über die Dallas Mavericks in der ersten Playoffrunde der NBA Playoffs. 4 zu 1 Siege. Auf dem Tresen tanzen leichtbekleidete Damen und schütten den Betrunkenen Bier in den Hals. „Let’s Go Thunder!“, rufen sie, und ihre Stimmen schlagen dabei kleine Kapriolen der Freude.
Jack allerdings interessiert das alles nicht, nicht die Damen, nicht der Jubel der anderen, nicht das Freibier. Jack will über Dirk Nowitzki reden. Jack liebt Dirk Nowitzki. Er trägt sein Trikot mit der 41, über seinem Herzen prangt Nowitzkis Unterschrift, er weiß noch wortwörtlich, was Dirk damals zu ihm gesagt hat. Er nennt ihn beim Vornamen, Jack sieht Dirk beim Basketballspielen zu seit er fünf ist.
Spalier für Nowitzki
Ein paar Stunden zuvor ist Dirk Nowitzki mit hängendem Kopf in den Katakomben der Chesapeake Arena verschwunden. Seine Mavericks haben in dieser Playoff-Serie alles gegeben, aber es hat nicht gereicht. 104:118, was deutlicher klingt, als es tatsächlich war. Oklahoma City um die Superstars Kevin Durant und Russell Westbrook war letztendlich zu athletisch und zu tief besetzt für die Mavs. Zumindest über eine ganze Playoffserie. Dirk Nowitzki hat in diesem letzten Saisonspiel 25 Punkte erzielt und seinem 37-jährigen Körper alles abverlangt. Und als das nicht genug war, ist er mit leerem Blick in die Kabine geschlichen. Auf dem langen Gang standen sämtliche Mitarbeiter der Mavericks Spalier und nickten ihm zu.
Als Dirk aus der Dusche gekommen ist, haben sich die Reporter im Raum wie Sonnenblumen zur Sonne gedreht, ein Knäuel aus Kameras und Mikrofonen. Die Fragen haben sich um das Sportliche gedreht, und Nowitzki hat gewohnt professionell und freundlich geantwortet, aber in der Luft hat eine eigentümliche Mischung aus Wehmut, Angst und Respekt gelegen. „That could have been it“, sagt einer der Beat Writer, als Dirk aus der Kabine humpelt.
Schluterklopfer für alle
1.485 Spiele in der besten Liga der Welt hat Nowitzki in den Knochen, 18 lange Jahre, eine Meisterschaft, zahllose individuelle Auszeichnungen, er hat über 200 Mannschaftskameraden kommen und gehen gesehen, zahllose Schreiber und Fernsehleute und Fotografen, Dutzende Hallen, Kabinen, Flugzeuge und Hotels, aber er geht nicht, ohne sich zu verabschieden: Fist Bumps für die Reporter, Schulterklopfen für die Kabinenbediensteten, sogar den Sicherheitsleuten der Thunder wünscht Nowitzki Glück, als er die Halle verlässt. „But I sure hope it wasn’t“, sagt der Reporter.
Last Call im Coyote Ugly. Jack Marquez erklärt noch einmal, warum Dirk sein Held ist. Wir wissen das, seine Freunde wissen das, aber Jack redet jetzt auf zwei Jungs an der Bar ein. Der eine trägt ein Kevin-Durant-Trikot, der andere ein Karohemd. Beide trinken Tequila aus Wassergläsern. „Bullshit“, sagt der eine, „Shut the fuck up“, sagt der andere, aber Jack ist so begeistert von Dirk, dass er nicht einsieht, warum er diese Begeisterung verstecken sollte, und als wir die Pinte verlassen, stehen Karo und Trikot vor der Tür und warten.
Die Fäuste fliegen
Ehe wir uns versehen, wird es laut. Der Typ im Trikot spuckt Jack undruckbare Beleidigungen um die Ohren, aber Jack rückt immer noch nicht von seiner Liebe ab. „Dirk ist der Beste“, sagt er. „Könnt ihr sagen, was ihr wollt.“ Soviel Liebe macht Karo nervös, plötzlich reißt er sich sein Hemd vom Leib. Er zieht es nicht aus, sondern rupft es kurzerhand auseinander, was ein wenig ungelenk aussieht. Dann steht er halbnackt in der Fußgängerzone von Oklahoma City, drahtig und komplett tätowiert, seine Hemdknöpfe hüpfen über den Bürgersteig. Der Hooligan packt Jack am Kragen, wuchtet ihn brüllend in die Luft und knallt ihn an die Wand. Ein paar Fäuste fliegen, aber treffen nicht, und sofort sind wir dazwischen und die Security da. Jack steht zitternd in der Nacht, aber er lächelt. „Jungs“, sagt Jack, „sagt Dirk, er ist der Größte.“
Dirk Nowitzki ist eine Legende seiner Sportart, und wenn man ihn über all die Jahre beobachtet hat, ist man versucht, das Wort „Held“ in den Mund zu nehmen. Er hat 29.527 Punkte erzielt, er ist der sechstbeste Werfer der Ligageschichte, er war der wertvollste Spieler. Er hat die Dallas Mavericks zur Meisterschaft geführt und jahrelang die deutsche Nationalmannschaft zu unerwarteten Erfolgen getragen. In der griechisch-römischen Mythologie sind die Heroen halb Mensch, halb Gott, sie sind schneller, mutiger und schlauer als der Ottonormalgrieche. Sie sind Krieger, Denker und Dichter. Sie schlagen Schlachten, werden bewundert, leben und leiden stellvertretend für den normalen Menschen. Achill, Aias, Odysseus.
Willkommen im Club 41
Dirk Nowitzki kann mit solchen Vergleichen nicht viel anfangen, er findet, sie haben nichts mit ihm zu tun. Ein paar Wochen später ist Dallas ein Backofen. Die Cleveland Cavaliers und die Golden State Warriors spielen gerade die Meisterschaft aus, Dirk Nowitzki hat sich den Rest der Playoffs nur sporadisch im TV angesehen. Aber schon eine Woche nach dem Ende seiner Saison hat er wieder in der Halle gestanden, Krafttraining und Laufband, damit der Körper in Form bleibt.
Er hat die Kinder in den Kindergarten gebracht und ab und zu Tennis gespielt. Jetzt wird es langsam zu heiß in der Stadt, und Familie Nowitzki sitzt auf gepackten Koffern Richtung Europa. Nur noch ein Termin: Dirks Heroes Celebrity Baseball Game, das jährliche Charity- Baseballspiel zugunsten seiner Stiftung. Am Vorabend des Spiels betritt Dirk Nowitzki eine Lagerhalle in West Dallas. Aus den Boxen ballert Hip Hop, das Lagerhaus ist nur für diesen Abend zu einem Club umgebaut worden: dem Club 41. An die Wände hat ein Sprayer Lobhudeleien gesprüht: „Superstar“ und „Legend“ und „Wunderkind“.
Nowitzki, der Bürgermeister
Ich nehme mir vor, Nowitzki zu fragen, wie es sich anfühlt, einen Raum zu betreten, der eine Art Kirche der eigenen Karriere ist. Inklusive Gemeinde. Alle sind da: die Honoratioren und Edelfans, die Mavericks, die Rangers, die Cowboys, die Helden von Dallas. Nowitzki ist ihr Bürgermeister. Als er den Laden betritt, schlägt ihm eine hitzige Liebe entgegen, ihm wird zugeprostet, er wird angetanzt. Es ist fachliche Überzeugung: Alle hier verstehen die Sportart, haben seine Spiele gesehen und können das Besondere seiner Leistung einordnen. Es ist eine familiäre Zuneigung: Sie haben Dirk erwachsen werden sehen.
Quarterback Tony Romo von den Dallas Cowboys, ebenfalls eine Legende des texanischen Sports, lässt sich mit Nowitzki fotografieren und sieht dabei wirklich stolz aus. Romo ist zwei Jahre jünger als Nowitzki, aber er hat schon seit einigen Jahren mit Verletzungen zu kämpfen. Als wir am nächsten Morgen über den Highway nach Norden Richtung Frisco fahren, ist Nowitzki müde, aber zufrieden. Wir trinken doppelten und dreifachen Espresso. Es war eine lange Nacht, jetzt folgt das eigentliche Ereignis.
In Schweden im Supermarkt
Das Stadion ist längst ausverkauft, 12.000 Zuschauer. Ich stelle meine Frage vom Vorabend, wie es ist, als Held gesehen zu werden, und Nowitzki erzählt vom letzten Sommer, als er an der Anfield Road in Liverpool einmal ein Spiel gesehen habe. Ganz normal im Stadion. Niemand habe ihn erkannt, die Leute hätten lediglich Witze über seine Größe gemacht. „Look at that tall bloke!“ Ein paar Tage später sei er in Schweden allein in einem Supermarkt gewesen. Er lächelt. „Ich habe Spaß an den beklopptesten Dingen.“ Ein Held, dem sein Heldenstatus immer noch ein kleines Rätsel ist.
Wie das Wetter werde? 35 Grad im Schatten. Nowitzki grinst, er kennt das, er wohnt schon mehr als die Hälfte seines Lebens in der Hitze. Als wir das Stadion der Frisco Rough Riders erreichen, stehen die Fans bereits Schlange, und Nowitzki schreibt die ersten vierzig Autogramme des Tages. Der Dr. Pepper Ballpark hat die genau richtige Größe und Atmosphäre für ein Benefizspiel dieser Art. Die Tribünen sind weit und offen, viktorianisch anmutende Säulen und Veranden, über allem der Geruch von Popcorn und das Zischen von Light-Beer-Büchsen. Das Stadion füllt sich schnell, und nachdem sich Nowitzki einmal die komplette Länge des Spielfelds entlang signiert hat, geht das Spiel los.
Ein Held muss tun, was ein Held tun kann
Die Nationalhymne. Take Me Out to the Ballgame. In Nowitzkis Team spielen ein paar Rangers, der Weltklassegolfer Jordan Spieth, ein paar Mavericks und ein paar finanzstarke Dirk-Enthusiasten. Das Spiel ist lustig anzuschauen, ernst wird es nie. Im Dugout werden stilecht Sonnenblumenkerne gekaut und Hotdogs kredenzt, es wird gelacht und gespendet. Ein All-American afternoon: Es geht um die gute Laune, und die gelingt. Empfänge und Events wie dieses sind eigentlich nicht Nowitzkis Sache, die geballte Aufmerksamkeit war ihm früher sogar unangenehm.
Aber in seinen amerikanischen Jahren hat er gelernt: Ein Held muss tun, was ein Held tun kann. Ein Tag als Gastgeber hat einen langfristigen Effekt. Die Dirk Nowitzki Foundation, geleitet von seiner Frau Jessica, kann mit einem solchen Event monatelang ihre Arbeit für Kinder und Jugendliche finanzieren. Die Stiftung und ihre Arbeit sind für ein paar Stunden in aller Munde, mit den Spenden lässt sich richtig etwas bewegen. Die Fans und ihre Kinder gehen nach einem solchen Nachmittag beseelt nach Hause. Und dieser Aspekt von Nowitzkis Arbeit ist vielleicht der bedeutendste.
Quindao auf Reisen
Nach dem Spiel verschwinden die Prominenten und Semi-Berühmtheiten in der Kabine, nur Nowitzki bleibt auf dem Feld und unterschreibt im Flutlicht noch eine gute Stunde Eintrittskarten, Trikots, Bilderrahmen, Bälle, Bobbycars – einfach alles, was die Fans durch die Sicherheitskontrolle schleusen konnten. Ein paar tausend Unterschriften, diesen Sommer werden wir diese unglaubliche Ausdauer noch häufiger beobachten.
Ein Fan namens Jason Quindao ist fünf Stunden gefahren, um Dirk zu sehen, und als Nowitzki auf seiner Ehrenrunde dann tatsächlich bei ihm stehenbleibt, kommen ihm die Freudentränen. Und Nowitzki freut sich mit, spontan umarmt er den jungen Kerl. Ein Feuerwerk wird abgebrannt, und als wir endlich in der Kabine ankommen, ist die Pizza längst kalt, aber Nowitzki gönnt sich ein Stück. Pizza würde er während der Saison niemals anrühren. Der Fernseher zeigt das vierte Spiel der NBA-Finals, Cavaliers gegen Warriors.
Die deutsche Liebe ist anders
Im August ist Dirk Nowitzki schon wieder unterwegs zu einer Arena. Diesmal steht das Stadion zwischen Kornfeldern am Rande von Mainz. Heute wird Fußball gespielt, das Spiel, das Deutschlands Sportlandschaft dominiert. Wieder geht es um den guten Zweck. In Deutschland leitet Dirks Schwester Silke die Dirk Nowitzki Stiftung, die sich für die Selbstermächtigung und Stärkung von Kindern und Jugendlichen einsetzt. Heute sollen 25.000 Leute kommen und sich ansehen, wie die Dirk Nowitzki Allstars gegen eine Auswahl von prominenten Sportlern antreten. Champions for Charity, die Meister aller Sportarten. Sebastian Vettel, Miro Klose, Henry Maske. Organisiert von Dirk Nowitzki, zu Ehren von Michael Schumacher.
Die deutsche Liebe für Dirk Nowitzki ist anders als die amerikanische. In Deutschland kennt jeder Dirks Gesicht, jeder kennt die Werbespots seiner Bank. Jeder findet ihn sympathisch, bodenständig und komisch. Jeder weiß, dass er ein sehr erfolgreicher Basketballspieler in Amerika ist. Die tägliche Beschäftigung mit seiner Sportart und basketballerisches Fachkennertum: Fehlanzeige. Die wenigsten können bis in die Morgenstunden wachbleiben, um Dirk Nowitzki spielen zu sehen.
Der Vergleich mit Schmelling und Co.
Die amerikanische Basketballlegende mit dem trockenen Humor ist in Deutschland für die meisten Menschen der nette Junge von nebenan. Weil er nachts wachgeblieben ist, um die Meisterschaftssaison der Mavericks 2011 im Netz zu verfolgen, stellt der Soziologe und Historiker Wolf Lepenies Dirk Nowitzki in eine Reihe mit den ganz großen Namen des deutschen Sports, mit Fritz Walter, Max Schmeling und Uwe Seeler. Und eben Michael Schumacher. Lepenies spricht von „Lauterkeit“, von Sportlern, deren Siege man als „gerecht“ empfindet.
Heute ist das Stadion Ferrari-rot und DiBa-orange, überall sieht man Nowitzki-Trikots. Obwohl es bei diesem Spiel sportlich um nichts geht, liegt Spannung in der Luft. Bei der Pressekonferenz steht eine Sportlegende neben der anderen auf dem Podium, soviel Sportgeschichte kommt selten zusammen: Handballweltmeister, Fußballweltmeister, Formel-1-Weltmeister, Halbschwergewichtsweltmeister und Weltmeister im Freiwasserschwimmen. Dirk Nowitzki spielt die Rolle des Gastgebers souverän, er spricht nicht von sich, sondern bewundernd über Schumacher und seine Bedeutung für den deutschen Sport, er heißt Schumis Sohn Mick willkommen.
Dirk Nowitzki hat seine großartige Karriere beendet. Wir trafen einst Deutschlands Sportlegende in Dallas uns sprachen mit ihm über Freude an der Arbeit, Helden und Pippi Langstrumpf. Das komplette Interview, das im Oktober 2016 stattfand.
Aber erst, als sich der Boxer Henry Maske spontan das Mikrofon schnappt, um sich seinerseits und im Namen aller bei Nowitzki zu bedanken, als dann sämtliche Weltmeister und Superstars ehrlich dazu nicken, wird klar, dass dieser Nachmittag tatsächlich etwas Besonderes ist. Das Spiel selbst ist dann eine eigentümliche Mischung aus Athletik und Dilettantismus. Und Humor. Auf dem Fußballplatz wird sichtbar, wie klein Formel-1-Piloten sind, wie staksig sich Basketballer bewegen, wie quecksilbrig Miro Klose durch die Verteidigungsreihen flitzt. Es fallen Tore am Fließband. Irgendwann imitiert Nowitzki den Trippel-Elfer des Italieners Zaza, inklusive Schuss in die Wolken.
Lukas Podolski verwandelt eine ungelenke Nowitzki-Flanke per Seitfallzieher spektakulär in den Winkel, ein schönes Zufallsprodukt, das später zum Tor des Monats gewählt werden wird. Ein Déjà-vu: Als das Spiel vorbei ist und Dirks Team 9:6 gewonnen hat, als die Spieler einer nach dem anderen durch die Mixed Zone schlendern und sich in der Kabine ihre Bierchen genehmigen wie ordentliche Freizeitsportler, schreibt und fotografiert sich Dirk Nowitzki noch immer durch das Stadion. Eine Ehrenrunde mit Edding, er unterschreibt länger, als das Spiel selbst gedauert hat. Solange, bis alle zufrieden nach Hause gehen könne.
Der neue Vertrag
Apropos Ehrenrunde, kurze Zeit später wird klar, dass Dirk Nowitzki einen Vertrag für zwei weitere Spielzeiten bei den Dallas Mavericks unterschreiben wird. Noch weiß davon niemand, aber in der letzten Nacht hatten er und Holger Geschwindner die Verhandlungen abgeschlossen. Zwei Jahre, 50 Millionen Dollar: eine absolute Seltenheit für einen mittlerweile 38-jährigen Basketballspieler. Als der Rummel vorbei ist, nach Autogrammrunde und Interviewmarathon, steigt Nowitzki in das Auto seines Hausarztes Neundorfer und fährt Richtung Würzburg. Ab jetzt wird er sich auf die neue Saison vorbereiten.
Anfang September steht Nowitzki dann in einer leeren Turnhalle in Warschau und schwitzt wie ein Tier. Vor dem Fenster tobt der goldene Herbst, der Chlorgeruch der benachbarten Schwimmhalle dringt herein, die Luft ist feucht und dick. Nowitzki arbeitet sich durch ein T-Shirt nach dem anderen. Der Korb ist zu hart, der Ball ist zu weich, aber das spielt alles keine Rolle. Nowitzki muss jetzt tun, was ein NBA-Spieler seines Alters tun muss. Wir sind in Polen, weil in Warschau die neuen Werbespots für Nowitzkis Hauptsponsor gedreht werden.
Kurzes Hallo, dann los
Am Set wartet eine sechzigköpfige Crew auf ihren Hauptdarsteller, aber Nowitzki und Holger Geschwindner verschwinden jeden Tag um die Mittagszeit für ein paar Stunden in polnischen Turnhallen. Vorher und nachher sitzen wir in einem Wohnmobil herum und warten auf seinen Einsatz. Nowitzki dreht mit Kindern und Hunden, es ist mühsam und zeitaufwändig, aber es wird trotzdem viel gelacht. In den Pausen diskutieren Geschwindner und Nowitzki die Lage der Welt. Es geht um die amerikanischen Wahlen und die Protestbewegung, die der Footballspieler Colin Kaepernick losgetreten hat, es geht um Kinder und Wohnorte und Bücher.
Seit vier Wochen sind die beiden im Training. Sie arbeiten in stinknormalen Sporthallen in Würzburg und Umgebung. Morgens gegen halb zehn schließt Nowitzki die Halle auf, macht seine Intervallläufe auf der Laufbahn nebenan, hebt seine Gewichte, macht körperstabilisierende Übungen, arbeitet an der Explosivität seiner Muskulatur. Stundenlang, sein Telefon dudelt die Begleitmusik. Wenig später rollt dann Holger Geschwindners Kombi auf den Parkplatz. Kurzes Hallo, ein paar kleine Frotzeleien, dann ziehen die beiden ihr Programm durch. Wie immer.
„Pass auf, Junge“
Seit mehr als zwanzig Jahren. Dirk wirft, Holger reboundet. Lange Zweier, Freiwürfe. Dirk wirft, Holger reboundet. Dreier aus der Hocke, Dreier aus dem Winkel. Es wird nicht viel geredet, die Choreographie ist seit Jahren gleich. „Pass auf, Junge“, lacht Nowitzki. „Das hier hast du noch nie gesehen!“, und dann macht er dasselbe wie immer. Zumindest sieht es so aus. Dirk wirft, Dirk trifft, Holger passt. „Es kommt nicht auf die Übung selbst an“, sagt Geschwindner, „sondern auf die winzigen Nuancen bei ihrer Ausführung.“
Ein Mythos ist keine einmalige Geschichte, ein Mythos ist das, was immer wieder geschieht. In den letzten Jahren habe ich etliche dieser Trainingseinheiten beobachten dürfen, anfangs habe ich fasziniert die Treffer gezählt, mittlerweile setzt auch bei mir nach wenigen Minuten eine Art Meditationseffekt ein, die Bewegungen ein seltsamer Tanz, die Geräusche ein Mantra: Wurf. Swish. Wurf. Swish. Am Ende jeder Trainingseinheit steht ein Wurfspiel, auch heute in Polen. Nowitzki wirft solange, bis er 128 Mal getroffen hat. Immer aus der Bewegung, immer lange Zweier. „Wir wollen die gedankliche Fixierung auf das Dezimalsystem aufbrechen“, erläutert Geschwindner. „Das Messen von Erfolg und Misserfolg in Quoten, das ständige Einteilen in Zehnerportionen.“
Kein Wein für Dirk
Die Würfe sollen im Fluss passieren, jenseits einer bestimmten Wurfanzahl befreie sich der Kopf vom Bewertungszwang. Es gehe um einen anderen Blick auf diese scheinbar immergleichen Abläufe. Geschwindner zählt die Treffer, Nowitzki die Fehlversuche. Automatisch. An schlechten Tagen braucht er mehr als 140 Würfe, an guten keine 135. Heute sind es 139. Er sammelt seine nassen T-Shirts ein und wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Das könnte das letzte Mal gewesen sein“, lächelt er. „Für dieses Jahr.“
Beim Abendessen bestellt Nowitzki dann Steak und gedünstetes Gemüse, denn vor Saisonbeginn muss er den Körper in den Idealzustand bringen. Mit den Jahren wird das nicht leichter. Der Tisch bestellt Wein, Nowitzki nippt und bleibt dann beim Wasser. Als alle Teller leer sind, werfen er und Geschwindner noch zwei, drei Sprüche hin und her, dann verabschiedet er sich und verschwindet auf sein Zimmer, denn auch Schlaf gehört zum Beruf des Basketballprofis.
Saß der Asket...
Morgen früh wird Dirk Nowitzki um sieben im Fitnessraum stehen und arbeiten, im 41. Stock des Hotels, mit dem Blick auf den Warschauer Kulturpalast in der Morgendämmerung. Direkt danach Abflug, und übermorgen geht es zurück nach Amerika. Wir anderen bleiben sitzen, schenken nach und Geschwindner zitiert schelmisch schmunzelnd Wilhelm Busch: „Im Hochgebirg vor seiner Höhle / Saß der Asket; / Nur noch ein Rest von Leib und Seele / Infolge äußerster Diät.“ Er lacht, weil Busch ein komischer Dichter ist, und weil er weiß, dass diese Intensität bisweilen für Verzicht gehalten wird, obwohl sie das Gegenteil ist, obwohl sie das Besondere und Außergewöhnliche erst möglich macht.
Das neue Trainingszentrum der Mavericks jenseits die Interstate 35 riecht noch nach frischer Farbe. Das American Airlines Center liegt in Sichtweite. Als wir Dirk Nowitzki im Oktober besuchen, sieht man deutlich, wie konsequent er seit dem Sommer gearbeitet hat. Zumindest bilde ich mir das ein. Er sieht schmaler aus, die Würfe wirken einen winzigen Sekundenbruchteil schneller, ein paar Millimeter präziser. Nowitzki redet weniger und wirkt konzentrierter als noch vor wenigen Wochen.
Romo wird ersetzt...
Die Mannschaft wurde um den explosiven Forward Harrison Barnes und den erfahrenen australischen Center Andrew Bogut erweitert, aber für Nowitzki bleibt alles beim Alten. Auch in seiner 19. Saison ist er immer noch die zentrale Figur im System der Mavs. Das erste Saisonspiel spielen die Mavericks in Indianapolis. Im Publikum sitzen zwei Fans in Superheldenkostümen. Dirk wird im linken Low Post isoliert, bekommt den Ball, nimmt den ersten Wurf der neuen Saison und verwirft.
Das Spiel geht in die Verlängerung, Dirk erzielt 22 Punkte, aber die Mavericks verlieren knapp. Eine weitere Saison hat begonnen, ein weiterer Akt dieser Heldengeschichte wird geschrieben, auch wenn Dirk Nowitzki das niemals einräumen würde. Jack Marquez und Jason Quindao werden ihre Trikots mit der 41 tragen und sie in irgendeiner Kneipe Amerikas bis aufs Blut verteidigen.
Tony Romo wird bei den Cowboys durch den jüngeren und schnelleren Dak Prescott ersetzt. So it goes. Houston. Utah. Die ersten fünf Spiele werden verloren gehen, dann wird ein Overtime-Sieg gegen Milwaukee folgen. Dirk kränkelt und hat Probleme mit dem rechten Fuß, aber wir machen uns keine Sorgen: Wenn Achill die Ferse schmerzt, schwört er auf Quarkpackungen.
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