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Diego Maradona: Eines Abends im Mai

Diego Maradona: Eines Abends im Mai

Dreck, Kriminalität, Drogen, Scheiß-Süditaliener. Neapel war für viele der ungeliebte Sohn Italiens. Doch dann kam Diego Maradona und der größte Arschtritt der Geschichte begann.


DONNERSTAG, 5. JULI 1984

In der Stadt haben die Artisten der Fantasie im Nullkommanichts die verwinkelten Gässchen überschwemmt. Maradona-Poster, Krippenfiguren, Shirts und Pullis, Locken und lächelndes Konterfei auf Strümpfen mit dem Slogan „Maradona zu Füßen der Neapolitaner!“ Zwischen Erniedrigung, Ramsch und Ratlosigkeit reicht sein Hinabsteigen für leuchtende Augen. Auf den Verkaufsbänken liegen die ersten Kassetten.

„Maradona ist besser als Pelé“ oder „Hymne an Maradona“ – nicht autorisiertes Original zehn D-Mark, Raubkopie des illegalen Originals 6,50 D-Mark. Boxen trällern Songzeilen wie: „Wer mag, kann die Polizei rufen, aber die macht Maradona auch nass. Wir kaufen alle eine Jahreskarte, schließlich sind wir Opfer gewöhnt. Maradona, bitte enttäusch uns nicht, Fußball ist alles, was wir haben. Napoli ersteht dank dir wieder auf, und wir machen dich zum König!“

80.000 Tifosi zahlen die symbolische Summe von 1.000 Lire, manche mehr, der Schwarzmarkt blüht, als sei es das WM-Finale. Schon um 16 Uhr ist das Stadion San Paolo überfüllt. „Raus, raus, raus!“, skandieren die Jünger von den Rängen.

18:31 Uhr. Endlich betritt Er in hellblauer langer Sporthose und weißem T-Shirt den Rasen, umzingelt von TV-Kameras und Fotografen, zwei werden im Tumult von Polizeihunden gebissen. Köpfe strecken sich, die Masse tobt, weil sie Maradona nicht sehen kann – er muss noch einmal die Treppen hinunter und den Auftritt Tifosi-wirksam wiederholen. 1,68 Meter und dichte Locken drehen eine Ehrenrunde,gejagt von stolpernden Fotografen. Der Königverteilt Handküsschen an die Menge. Bengalische Feuer qualmen, auf 20 Metern Stoff stehtgeschrieben: „Maradona ist der hellste Stern am neapolitanischen Himmel.“ 

Er jongliert unter „Aahs“ und „Oohs“ mit dem Ball, spontan starten Ovationen und La Ola. Dann jagt er den Ball gen Himmel, aus dem Er soeben hinabstieg. Auf den Rängen explodiert ohrenbetäubendes Gejohle.

Das ungeliebte andere Italien kann sich warm anziehen. Von wegen Dreck, Kriminalität, Drogen, Scheiß-Süditaliener. Jetzt werden wir euch in den Hintern treten. Der beste Fußballer der Welt gehört Neapel, einer Stadt außer Rand und Band. Maradona verschwindet in den Katakomben, es folgt die Apotheose. In den Straßen bricht die Hölle los, stundenlang ist der Verkehr paralysiert. Hupende Autos, knatternde Vespas, Veitstänze, Schlachtgesänge. „Mamma, Mamma, Mamma, weißt du, warum mein Herz so pocht? Ich habe Maradona gesehen, und, Mamma, ich habe mich verliebt!“

Tragik kratzt an der entwaffnenden Anmut und am Lebenswillen der Stadt, dem turbulenten Charme der Neapolitaner. „Wenn du kommst, weinst du zweimal“, sagen sie. „Bei der Ankunft und bei der Abreise.“ Viele Italiener fühlen sich bei der Ankunft allerdings, als müssten sie nun den Reisepass hervorkramen, weil sie beargwöhntes, exotisches Terrain betreten. Andere treten die Reise erst gar nicht an. In den Stadien des Nordens hängen sie Transparente auf: „Wascht euch!“, „Benvenuti in Italia“, „Wir grüßen den Afrika-Meister“, „Neapel – Tuberkulose und Cholera“, „Kloake Italiens“, „Wir sind keine Rassisten, ihr seid ja Neapolitaner“ und „Forza Vesuvio!“, der Stadt und Umgebung doch endlich mit Lava von der Landkarte spülen soll.

Napoli antwortet mit süffisanter Ironie. In Shakespeares imaginärer Heimat von Romeo und Julia, Verona, rollte man das Spruchband aus: „Giulietta è una zoccola!“ – „Julia ist eine Nutte!“ Herrlich. Der Norden bleibt trotzig abfällig. Er palavert von „terroni“ (Erdfressern) und „Afrikanern“, da viele alles unter Rom am liebsten vom Stiefel sezieren würden. Die sieben goldenen Jahre des Maradona-Epos verwandelten Napoli deshalb in eine Insel der Glückseligkeit und eine kontinuierliche Kirmes um den stets ausverkauften Ballsaal San Paolo.

Seit der Vereinigung Italiens 1861 blickte die Stadt nicht nur geografisch stets nach oben, während der präpotente Norden permanent auf sie herabschaut. Die meridionale Frage beschäftigt das Land seit den Kämpfen der Einheitsbewegung „Risorgimento“. „Kloake“ und „niedere Rasse“ schnaubten die Besetzer aus dem Piemont schon damals, der Süden („Mezzogiorno“) zahlte mit Bedeutungsverlust und Verarmung. Die 150-Jahrfeier des Stiefels wurde nicht von jedem mit Trompeten und Konfetti zelebriert. Kurz vor dem offiziellen Festtag schwadronierte Premier Silvio Berlusconi aus Anlass der Partie Milan gegen Napoli, sein AC würde heute den Süden schlagen.

Die Lokalpresse zürnte, weil ihm Neapel Jahre zuvor zum Stimmenfang ja noch gut genug gewesen wäre. Die Stadt habe er, wie die meisten aus dem Norden, aber sowieso nie verstanden. Infolge einer Existenz zweiter Klasse wurde der Fußball zur Metapher, die in puncto der verlorenen Grandezza der einstigen Hauptstadtmetropole weit über den Sport hinausging. „Wer denkt, in Neapel sei der Fußball lediglich Fußball, hat weder den Calcio noch Neapel verstanden“, sagte der neapolitanische Journalist Marco Bellinazzo einmal.

Ein Paradigma aller Schichten traf Maradona demnach zur sonntäglichen Familienmesse der sozialsportlichen Revanche. Man verneigte sich vor der Mannschaft, die das nationale Gefälle kippte und die norditalienische Machtachse durchbrach. Parallel verschärfte sich der Ton der Rivalen. Ein Plakat im Mailänder San Siro las: „Maradona – Hitler hat dich vergessen.“ Maradonas Präsenz erhob sich über das Sportliche. In der unmittelbaren Adoption des Argentiniers verschwammen die Grenzen zwischen der verarmten Peripherie von Neapel und Buenos Aires. Der „Pibe de oro“ (Goldjunge) wurde zum „Scugnizzo“ stilisiert, dem neapolitanischen Gassenjungen – vorlaut, gerissen, überlaufender Pathos, mit dem er sich in den brausenden Nordwind stellte.

Er kanalisierte die Stimmen der Neapolitaner, die ab 1984 zigtausende Söhne Diego, einige Töchter gar Diega tauften. Bei den Kommunalwahlen erhielten 20.000 Stimmzettel das Votum „Viva Maradona!“. Das Crescendo im Prestige begleitete eine willkommene Metamorphose der Fankultur. Wo es in der Vergangenheit Steine, Flaschen und Platzsperren hagelte, regierte fortan eine wundersame Benimmschule. 1987 verlieh man den SSC-Tifosi die internationale Auszeichnung „fairstes Publikum Europas“, bis zu Maradonas Abschied 1991 wurden weder Ausschreitungen noch unsportliche Zwischenfälle registriert.

Der Soziologe und Direktor des Camorra- Observatoriums Amato Lamberti, notierte: „In Neapel kann man aus nichtigen Beweggründen sterben oder misshandelt werden. Dann gehst du ins Stadion und dieselbe Person, die gerade noch wegen eines simplen Streits bereit war, die Faust zu ballen, überkommt ein Feierklima. Ich denke, es handelt sich auch um ein Klima des Respekts, eine ungewollte Konvention der organisierten Kriminalität die Fußballmannschaft in Frieden zu lassen. Bei der Partie treffen sich mehrfach vorbestrafte Figuren, die im Stadion tadelloses Benehmen und einzigartige Höflichkeit vorzeigen.“

Im berstenden Bauch der Arena avancierte der Nachmittag lange vor Anpfiff zu einer folkloristischen Festivität dionysischer Lebensfreude, die man in den letzten Jahren bei der Rückkehr in die Champions League nach langer Einöde im Post-Maradona-Trauma wiederfand. Einzigartig bleibt jedoch die Klimax des ersten Scudetto, nach dem man symbolisch die Särge der Machtzentralen aus Mailand und Turin durch die Stadt trug.

SONNTAG, 10. MAI 1987

Maradona verhängt per Aufruf ein Fahrverbot für die Stadt. Die Tifosi machen sich artig zu Fuß auf. Zehntausende pilgern um acht Uhr morgens zum Teamquartier „Centro Paradiso“. Der Teambus rollt aus der Pforte, nichts zu machen. Ein königlicher Geleitzug eskortiert ihn bis zum Stadion – in Schrittgeschwindigkeit benötigt der Bus durch in Farbe getünchte Straßen und ein endloses Fahnenmeer vier Stunden für zirka zehn Kilometer. Am Theater San Carlo hängt ein Plakat: „Ihr seid wie die Zehnte von Beethoven“. 

Dank waghalsigem Espressokonsums und unnachahmlicher Hingebung bringt TV-Journalist Michele Plastico auf dem Lokalsender Teleoggi Beispielloses hinter sich: Er hat von Samstag neun Uhr morgens bis Sonntag 15 Uhr ununterbrochen durch einen Vorspielmarathon geführt. Ins San Paolo zwängen sich offiziell 90.000, inoffiziell erreicht man eine sechsstellige Zahl. Um die Arena drängeln sich Hunderttausende. Und die Sicherheitsbestimmungen? Also bitte. Anpfiff um 16:01 Uhr. Das Geplänkel auf dem Rasen gerät im bengalischen Rauch zur Marginalie. Der Countdown beginnt. In der Stadt sind die Straßen leergefegt. Das Dritte hat sich zu einer außerordentlichen Live-Übertragung entschlossen.

TV-Rechte? Also bitte. „Ab heute Abend wird Napoli nicht mehr nur die Stadt der Sonne, Pizza und Liebe sein, sondern auch die der Tricolore“, summt es aus dem Fernseher. Es ist nie zu spät, Stereotypen abzuarbeiten. Referee Pierluigi Pairetto aus Turin nimmt den Ball an der Mittellinie in beide Hände, ein heiserer Schrei aus dem TV: „17:47 Uhr, 10. Mai, Napoli Campione d’Italia!“ Auf der Anzeigetafel blinkt: Auf Wiedersehen im Europapokal der Landesmeister, ein Fallschirmspringer schwebt mit dem Scudetto-Pokal vom Himmel – die erste Meisterschaft Süditaliens. Maradona dreht Ehrenrunden. „Als ich den Rasen betrat und die leuchtenden Augen der Tifosi sah, ihre Hoffnungen, da kamen mir die Tränen. Jetzt weiß ich, dass Gott gerecht ist“, krächzt der Goldjunge. 

In der Kabine hüpfen die halbnackten Spieler und singen „Mamma, Mamma, Mamma, ich habe Maradona gesehen und mich verliebt“. Diego stimmt ein. Um 18:30 Uhr erscheint die Montagausgabe des Giornale di Napoli. Warum bis zum nächsten Morgen warten, wenn es eh keine wichtigeren Nachrichten gibt? Über neun Spalten ziehen sich die Letter „È nostro!“ – der Titel gehört uns. Über Nacht haben mehrere Tifosi eine Linienmaschine azurblau bemalt – die Alitalia drückt heute mal ein Auge zu und hebt koloriert ab. Ein Polizist kutschiert auf seinem Motorrad zwei Tifosi mit schwenkenden Fahnen, Lokale verteilen Gratispizza unter den Schwebenden.

Die Straßenhändler verscherbeln ihren Krimskrams aus Uhren (made in Japan), Bällen (made in Taiwan) über Sonnenschirme und Lampen bis zu Flaschenkorken. Der spontane Volksgenius wird über 20 Millionen D-Mark Reibach eintragen. Die Camorra hat Hasardeure mit hohen Einsätzen auf Napolis Titel „höflich eingeladen“, ihre Wetten zurückzuziehen, um ihre Verluste halbwegs in Grenzen zu halten. Ein fünfstöckiges Haus ist komplett mit einer Maradona-Figur bemalt – bis auf ein Fensterchen an seinem Herzen. Der Statue des Heiligen Gennaro wurden drei Finger abgemeißelt, er präsentiert jetzt das Victoryzeichen. Etwas weiter hält Dante Alighieri das Napoli-Wappen in der Hand und führt einen Ball am Fuß – eine echt Göttliche Komödie. 

Ein Tifoso schluchzt unter Tränen, er wolle nun sterben, um seinem verstorbenen Papa von diesem Tag zu berichten. Auf die Friedhofsmauer kritzelt jemand „Habt ihr was verpasst!“. Sehr bald erscheint darunter: „Woher wollt ihr das wissen?“ Über die Mattscheibe flimmert der grandiose neapolitanische Schauspieler Massimo Troisi und stellt die Anhänger aus dem anderen Teil Italiens ins Abseits: „Es ist besser, Meister von Nordafrika zu sein, als Transparente im Südafrika-Duktus aufzuhängen.“

In Anlehnung eines Troisi-Films wurde in einer Gasse ein Spruchband aufgezogen: „Entschuldigt die Verspätung“. Doch das meist fotografierte Transparent hängt einige Straßen weiter, die Zeile einer neapolitanischen Canzone der 1930er: „E me diciste sì ’na sera ’e maggio“ – Und du sagtest mir Ja, eines Abends im Mai. „Im Vergleich zu unserem Fest wird der Karneval in Rio zum Kindergeburtstag“, hatten sie angekündigt. Die Tifosi hielten ihr Versprechen mit einer Stadtfete, die eine Woche lang andauerte.

Über Jahrzehnte fantasierte man von der ersten Meisterschaft, nun war die Tricolore hier. Ein Happening, als wäre es die Geburt des ersten Sohnes, ein Kind mit Millionen von Eltern. Manch einer denkt, das Paradies kann warten. Neapel hatte es 61 Jahre nach Klubgründung nicht mehr ausgehalten. Ein exaltierter Schrei, mitten ins Gesicht des anderen Italiens.

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