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Bekir Refet: Der erste "Bomber" Deutschlands

Bekir Refet: Der erste "Bomber" Deutschlands

Bekir Refet war der erste türkische Fußballer in Deutschland. Doch seine Wahlheimat bescherte ihm mehr Schicksalsschläge als ein paar Tore. Er starb sogar zwei Mal. Ein Porträt.


Es waren die letzten Augusttage. Istanbul hatte die drückend heißen Temperaturen hinter sich gelassen und war so windig und kühl wie in einem gewöhnlichen Herbsttag. Die Zugzeit der Störche war längst gekommen. Eine Gruppe junger Männer hatte sich am Hauptbahnhof in Sirkeci getroffen und wartete auf ihren Zug. Das Leben in Anatolien war damals, um das Jahr 1920, durch den schmerzhaften Befreiungskrieg geprägt. Diese jungen Männer aus Istanbul sollten sich aber vom Krieg noch mehr entfernen und in anderen Ländern einen weiteren Kampf führen. Vor der Reise herrschte gute Stimmung. Die letzten Fotos, die letzten Gelächter...

Einer von ihnen schob seinen Holzkoffer mit seinem Fuß in die Nähe des Zuges. Er stellte sich darauf und schrieb mit der Kreide, die er aus seiner Tasche hervorholte, an das Äußere eines der Waggons auf Französisch: „Footballistes de Galatasaray“. Ein anderer füllte das strohgelbe Telegrammformular aus, das er am Rücken eines Freundes fixiert hielt: „Wir machen uns auf den Weg nach Lausanne. Hochachtungsvoll, Bekir.“

Bekir spielte nicht bei Galatasaray. Damals war er im Kader von İttihatspor, dem Nachfolger von Altınordu, der als der Verein des Komitees für Einheit und Fortschritt, der mächtigsten Partei der Jungtürken, bekannt war. Im Istanbul der Besatzungsjahre gewann Altınordu alle Meistertitel. Diesen Erfolg verdankte der Verein den Stars, die mit verschiedensten Versprechungen von Galatasaray, Fenerbahçe und Beşiktaş geholt wurden. Auch Bekir war einer dieser Spieler. Er war bereits mit 13 Jahren, als er noch zur Numune Mittelschule in Kadıköy ging, entdeckt worden, und hatte drei Jahre in der Jugend von Fenerbahçe gespielt, bevor er im Kader der ersten Mannschaft spielen durfte.



Ein flinker Fußballer

Nachdem er es dort schnell zu Ruhm gebracht hatte, wechselte Bekir ein Jahr später zu Altınordu. Und nun wurde er auf Bitten der Verantwortlichen für die Spiele in Europa in den Kader von Galatasaray aufgenommen. Was machte ihn im jungen Alter zu einem Star? Der kleinwüchsige, untersetzte, dunkelhäutige Junge hatte das Fußballspielen in Kadıköy, wo er geboren und aufgewachsen war, von Engländern gelernt. Aus späteren Interviews mit ihm geht hervor, dass er sich glücklich schätzte, weil er das Spiel von „Erfindern des Fußballs“ lernen konnte.

Bekir bezauberte die Zuschauer vor allem mit seinem Talent. Er war so ein flinker Fußballer, dass er sogar sich selbst umspielen könnte. Seine Ballbeherrschung war beispiellos. Seine scharfen Augen schenkten seinen Schüssen Treffsicherheit und seine breiten, muskulösen Beine eine hohe Geschwindigkeit.

Als Fenerbahçe gegen die Besatzung des in Istanbul geankerten berühmten Schlachtkreuzers Goeben spielte, wurde er von den deutschen Matrosen „roter Teufel“ genannt. Und es wird erzählt, dass er in einem Spiel gegen die Mannschaft der französischen Besatzungsmacht einen alten Schuhputzer mit einem Schuss ins Krankenhaus beförderte. Er war eine Fußballlegende, die mit ihren Schüssen einen Büffel umlegen, den Holzzaun neben dem Spielfeld demolieren, die Torpfosten ins Netz jagen konnte. Er könnte als Urgroßvater Gerd Müllers gelten, denn er war der erste Träger des Spitznamens „Bomber“.



Der Besuch von Emil Oberle

Die Europatour im Jahre 1921 war ein Wendepunkt in Bekirs Leben. Nach den Spielen in der Schweiz kam die Mannschaft nach Deutschland. Ihre erste Station war Karlsruhe. Dort brillierte Bekir im Spiel gegen den FC Phönix. Danach waren Frankfurt, Ludwigshafen und Köln an der Reihe. Die Mannschaft kehrte nach einer ermüdenden Tour, bei der sie in 45 Tagen 17 Städte besucht hatte, schließlich in die Heimat zurück. Aber in dem Zug, der nach Sirkeci fuhr, war der von Altınordu ausgeliehene Bekir nicht dabei. Er hatte sich bei einem Spiel in Hamburg verletzt und war für die medizinische Behandlung in Deutschland geblieben.

Im Krankenhaus besuchte ihn Emil Oberle, ein Spieler des FC Phönix, der in der Vergangenheit auch bei Galatasaray gespielt hatte. Der FC Phönix wollte Bekir verpflichten. Emil sagte zu ihm: „Beiß zwei Jahre lang die Zähne zusammen, danach kannst du nach Istanbul zurückkehren und dort mit dem Geld dein eigenes Geschäft eröffnen.“ Als Bekir Refet im Oktober 1921 den Vertrag unterschrieb, ging er nicht nur als der erste türkische Fußballspieler in Deutschland, sondern ebenfalls als der erste türkische Fußballprofi überhaupt in die Geschichte ein.

Bekir war vielleicht der erste der türkischen „Gastarbeiter“, die sich später mit einem unaufhörlichen Traum von der Heimkehr an ihrem Leben in Deutschland festhielten und dieses im Schatten des Traums in Deutschland fristeten. Zunächst heiratete er und bekam ein Kind. Seinem Sohn gab er den Namen seines Vaters sowie seines besten Freundes, mit dem er Jahre lang bei Fenerbahçe und Altınordu zusammengespielt hatte: Nuri. Später ließ sich Bekir von seiner Frau scheiden; Nuri blieb bei seiner Mutter. Bekirs Heimweh vermengte sich mit der Sehnsucht nach seinem Sohn, die letztendlich überwog. So blieb Bekir in Deutschland, während sein Sohn aufwuchs, um ihn wenigstens ein Mal die Woche sehen zu können, und seine Heimkehr musste für einige Zeit aufgeschoben werden.



Profesioneller Fußball war verboten

Bekir besuchte 1924 und 1927 auf Einladung seines ehemaligen Vereins Fenerbahçe hin Istanbul, um gegen Slavia Prag zu spielen. Als er am 3. Juni 1927 seinen Fuß auf den Boden des Hauptbahnhofs in Sirkeci setzte, wurde er von seinen Freunden empfangen und direkt zum Taksim-Stadion gebracht. Als er auf der Ehrentribüne gesichtet wurde, brach in der Menge, die dem Spiel zwischen Galatasaray und Slavia beiwohnte – fast 5000 Zuschauer –, für die Fußballlegende ein stürmischer Beifall los. Bekir war nicht vergessen.

Die Gelb-Blauen gewannen gegen Slavia Prag, die damals unbesiegbare Mannschaft Europas, mit einem Kopfballtor Bekirs. Ein Sieg, der damals als eines der größten Ereignisse im türkischen Fußball angesehen wurde. Bei seinem vorerst letzten Besuch blieb Bekir fünf Monate in Istanbul und spielte in weiteren Freundschaftsspielen für Fenerbahçe. Bekir hatte Istanbul vermisst und wollte bleiben. Aber: In der Türkei war professioneller Fußball verboten. Als ihm die Erlaubnis, in seiner Heimat zu spielen, verweigert wurde, kehrte Bekir verbittert nach Deutschland zurück. Er war sauer auf die verantwortlichen des türkischen Fußballbunds. Fast 25 Jahre kehrte er nicht in sein Heimatland zurück.

Allerdings widerstand er aber auch den beharrlichen Bitten, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Er lebte weiter als ein einsamer Türke in Karlsruhe. Vielleicht entschied er sich auch deswegen für den Nachnamen Teker (Anm. d. Red. Einsamer Soldat auf Türkisch). Als er 1951 als Ehrengast des Türkischen Fußballbunds in sein Land kam, um dem Länderspiel zwischen der Türkei und Deutschland beizuwohnen, sprach er mit einem gebrochenen Türkisch zu den Zeitungen und erklärte sich mit dem Interesse der Jugendlichen zufrieden, die ihn zum ersten Mal gesehen hatten.



Ein Kiosk in Karlsruhe

Der Fußballmigrant, der seine Karriere nach dem FC Phönix beim Karlsruher FV und dem FC Pforzheim fortsetzte, schaffte es, überall Publikumsliebling zu werden. Die Presse sprach davon, dass ein Türke in Deutschland Geschichte schrieb. Der Kicker machte den „Bomber“ sogar zur Titelstory. Er besaß alle Eigenschaften, die ein guter Fußballspieler brauchte. Wenn er den Ball am Fuß hatte, dribbelte er großer Geschwindigkeit, brachte die gegnerische Abwehr durcheinander, raubte mit seinen Toren den Zuschauern den Atem.

Bei den Olympischen Spielen 1924 in Paris schoss er im Spiel gegen die Tschechoslowakei als Kapitän die beiden Tore der türkischen Nationalmannschaft. Bei Olympia 1928 in Amsterdam, als die Türkei gegen Ägypten sieben Tore kassierte, kam der Ehrentreffer ebenfalls von Bekir. Nach seinem letzten Auftritt im Taksim-Stadion hatte Bekir in Karlsruhe ein Zeitungs- und Tabakgeschäft eröffnet, das seinen Namen trug.

Nachdem er mit dem Ende seiner Fußballkarriere im Alter von 38 Jahren als Einzelhändler ins Zeitungsgeschäft eingestiegen war, wurde er zum Zeitungsgroßhändler. Seine Geschäfte liefen bis zum Kriegsausbruch gut. Aber die Bombardierung Karlsruhes brachte sein Leben wieder durcheinander. Sein Kiosk war niedergebrannt und geplündert, die Kommunikation mit seiner Heimat völlig zusammengebrochen.

Die Türkei sah er nie wieder

Zu dem Zeitpunkt berichteten türkische Medien sogar über Bekirs Tod. Der berühmte Sportmoderator Sait Çelebi brach sogar in Tränen aus, als er von Bekir erzählte, und es wurde berichtet, dass der damalige Außenminister, Şükrü Saraçoğlu, sich mit Deutschland in Verbindung setzte, um den Leichnam des legendären Fußballers abholen zu lassen. Nach der einwöchigen Trauer in der Sportwelt kam jedoch heraus, dass es sich um einen anderen Türken namens Bekir handelte, der in Deutschland gestorben war.

Der „Bomber“ hatte Glück, er lebte. Aber unter den Verwundeten waren Freunde von ihm. Als er sie im Krankenhaus besuchte, konfrontierte das Leben ihn mit einer neuen Überraschung. Oberschwester Else und Bekir verliebten sich. Nach zwei Jahren Partnerschaft heirateten sie 1945. Else an seiner Seite zu haben, half Bekir dabei, über seine Einsamkeit hinwegzukommen.

Bekir, der finanziell schwer angeschlagen war, klammerte sich durch materielle sowie moralische Unterstützung seiner deutschen Frau wieder am Leben fest. Nach dem Kriegsende konnte er nach intensiven bürokratischen Auseinandersetzungen zusammen mit seiner Frau seinen Laden wieder eröffnen. Obwohl er sich danach sehnte, konnte er nach 1951 die Türkei nie wieder sehen.

1959 beendete er seine Karriere als Inhaber eines Ladens, in dem neben Tabak und Zeitungen auch Magazine, Bücher und Sportartikel verkauft wurden, und ging in Rente. Danach führte er zusammen mit seiner Frau ein asketisches Leben in einer Wohnung in Ettlingen, nahm aber regelmäßig türkische Migranten auf, die allmählich nach Deutschland kamen.

Als er 1977 in einem Krankenhauszimmer seine letzte Reise antrat, stand die Frau an seinem Bett, mit der er die letzten 32 Jahre seines Lebens geteilt hatte. Sein Tod, diesmal handelte es sich um den „richtigen“ Bekir, löste in der Türkei wieder große Trauer aus. Selbst Jahre nach seiner Karriere noch wurde in türkischen Medien an Bekir Refet erinnert wie an einen Märchenhelden: „Wer war nun dieser Bekir? Hatte er wirklich gelebt? Ist es wahr, dass man sein linkes Bein festkettete, damit er die Torhüter nicht mit seinen erbarmungslosen Schüssen verletzte? Sind die Gerüchte, dass einer seiner Schüsse die Rippen eines Ochsen, ein anderer den Torpfosten brach, nur Märchen gewesen? (…) Für diejenigen, die jene Tage miterlebten, war Bekir ein legendärer Mann, der aus einer mythologischen Welt gekommen war.“

Bekir Refet war ein Held, um den zwei Mal getrauert wurde...

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