Andreas Rettig hat im Profifußball einiges erlebt. Er leitete die Geschicke der Deutschen Fußball Liga (DFL) und war Manager bei einigen Bundesligisten - und doch bereitet ihm die aktuelle Entwicklung im Fußball große Sorgen. Im Gespräch spricht er darüber.
Herr Rettig, laut einer Umfrage von FanQ entfernt sich der Profifußball immer weiter von den Fans. Wie schätzen Sie die Entwicklung ein?
Die Resultate der FanQ-Umfrage haben mich persönlich nicht überrascht. Schließlich sind die Fanmeinungen das Ergebnis eines schleichenden Prozesses - der viel zitierten emotionalen Entfremdung.
Wie kam es dazu?
Um die Zusammenhänge zu erklären, muss man auf der Zeitachse zurückzublicken. 1963, als die Bundesliga gegründet wurde, gab es 16 Vereine. In dieser Zeit gehörte der Fußballverein noch ausschließlich den Mitgliedern. Es folgten die Einführung der Trikotwerbung und das Privatfernsehen. In den 90er-Jahren fiel dann das Bosman-Urteil, und am Ende dieses Jahrzehnts wurden die ersten Ausnahmeregelungen bezüglich der 50+1-Regel beschlossen. Später wurden die Stadionnamen veräußert. Das war ein großer negativer Meilenstein für den Fußballfan. Der Stadionname, also der Name des Wohnzimmers des Fußballfans, wurde verkauft.
Wie ging es weiter?
Weitere Themen kamen hinzu: die Katar-Entscheidung, unsinnige, aufgeblähte Wettbewerbe sowie ein hoher Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust bei den Funktionären. Das führt zu einer Verdrossenheit, wie wir sie aus der Politik in den vergangenen Jahren kannten. Früher gab es eine Politikverdrossenheit, jetzt haben wir eine Fußballverdrossenheit.
Sie haben den neuen Verteilerschlüssel der DFL jüngst kritisiert.
Hier sind gleich mehrere Chancen verpasst worden, die oft zitierte Schere zwischen arm und reich etwas zu schließen. Ich hätte mir gewünscht, dass man perspektivisch ein klares Bekenntnis abgibt. Es muss nicht im Laufe einer Verteilperiode erfolgen. Aber ich hätte mir eine politische Botschaft gewünscht, die sagt: Ja, wir haben verstanden, wir wollen in den nächsten Jahren die Schere schließen und so für mehr Gerechtigkeit sorgen. Das wäre auch aus Fansicht ein wichtiger Schritt gewesen.
Ihrer Meinung nach hat man auch die jüngeren Fans nicht im Blick gehabt.
Es ist verpasst worden, neue Impulse zu setzen. Ich denke dabei an Nachhaltigkeit, soziale und ökologische Themen, für die 14-, 15-, 16-Jährige zurzeit auf die Straße gehen. Man konnte sich nicht auf eine Namensgebung für die Bundesliga einigen, während der Name in anderen Ländern bereits gewinnbringend verkauft wird. Ein Statement wäre gewesen, den Namen 'Green-Deal-Bundesliga' zu nehmen. Als starkes Statement, dass sich der Fußball zur Nachhaltigkeit bekennt. Zu erwähnen ist auch die Generation Z der unter 23-Jährigen. Dieser Gruppe, diesem gesellschaftlichen Wandel, der stattgefunden hat, Rechnung zu tragen, wäre ganz wesentlich gewesen. Denn diese Generation Z kann man aus meiner Sicht emotionalisieren - aber eben nicht durch goldene Steaks, sondern durch soziale und ökologische Themen.
Kann diese negative Entwicklung dem Fußball schaden?
Es ist wesentlich, dass eine Branche, die mit Fußball ihr Geld verdient, auch gesellschaftliche Akzeptanz benötigt. Aus meiner Sicht müssen DFB und DFL umdenken. Sie müssen ihre Popularität und Reichweite nutzen, nicht um Vermarktungserlöse zu steigern, sondern um gesellschaftlichen Nutzen zu stiften. Allen, die sagen, dass die Quoten stimmen, sei gesagt: Eine Quote ist eine rein quantitative Bemessung, die nicht die emotionale Nähe bemisst.
Gibt es auch positive Beispiele?
Die 2. Liga hat es ansatzweise vorgemacht: Den Switch hinzubekommen vom Shareholder-Value-Gedanken zum Stakeholder-Value-Ansatz. Es geht eben nicht mehr um Umsatzmaximierung, sondern darum, alle Interessengruppen zufrieden zu stellen. Die größte und wichtigste Gruppe besteht aus Fans, Partnern und Sponsoren. Diese müssen wir mehr in den Mittelpunkt rücken. Hier geht es um das Ausschütten einer emotionalen Rendite und nicht um eine monetäre Rendite für Kapitalgeber. Das ist im Fußball nicht angesagt, hier gehen die Uhren etwas anders als in einem normalen Wirtschaftsbetrieb.
Ist die Umsetzung einer solchen Denkweise überhaupt realistisch?
Ich bin kein Träumer. Natürlich muss man Einnahmen generieren. Aber ich würde mir wünschen, dass man der Umsatzmaximierung nicht alles unterwirft. Die Bundesliga profitiert von dem klaren Bekenntnis zu sozialverträglichen Ticketpreisen wie keine andere Liga.
Was meinen Sie damit?
Dazu möchte ich ein Beispiel aus der Gesellschaft bemühen, Stichwort Gentrifizierung. Wenn man feststellt, dass in bestimmten Stadtteilen sozial schwächere, kinderreiche Familien an den Rand gedrängt werden, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können, kann man das auch übertragen auf die Ticketpreise in den Stadien. Die sozial schwächeren werden aus den Stadien gedrängt, was zur Folge hat, dass die gesellschaftliche Akzeptanz schwindet. Und das wiederum hat zur Folge, dass Erlöse im Bereich der Medien und Sponsoren bröckeln. Es wird sich kein Unternehmen mit jemandem ins Bett legen, der gesellschaftlich keine Anerkennung hat.
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