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Alex Honnold: Brunnen ohne Boden

Alex Honnold: Brunnen ohne Boden

Wie konnte ein introvertierter, magerer Junge dem Tod die Stirn bieten und in die Geschichte eingehen? Voilà, das Lebensabenteuer des Alex Honnold.


Vor einem Jahr änderte sich so manches im Leben von Alex Honnold. Die einsamen und kargen Landschaften, die glatten Oberflächen und steilen Felsen, bei denen man selbst für den kleinsten Vorsprung große Dankbarkeit empfindet, dieser natürliche Lebensraum des wahrscheinlich berühmtesten Kletterers der Welt wich zuletzt dem Glanz und Komfort des roten Teppichs. An die Stelle der Kletterschuhe traten solche aus Lack, und dieser Tage begegnen wir Honnold nicht selten im Smoking. Zurückzuführen ist diese Veränderung im Leben des US-amerikanischen Freikletterers darauf, dass der Film Free Solo, der davon handelt, wie Honnold ohne Seil und andere technische Hilfsmittel den Granitfelsen El Capitan im Yosemite-Nationalpark, dem Mekka des Kletterns, bezwang, den Oscar für den besten Dokumentarfilm erhielt. Technisch gesehen ist Honnold kein Oscar-Gewinner; denn es sind eigentlich Elizabeth Chai Vasarhelyi und Jimmy Chin, die Produzenten und Regisseure, die den berühmtesten Filmpreis der Welt gewannen. Honnold gehört auch nicht zu den Schauspielern. Er ist das Thema.
Das Unmögliche möglich machen
Das „Free Solo“ von Honnold selbst bedeutet aber viel mehr als ein Oscar, wie die Worte der Regisseurin Vasarhelyi unterstreichen, die sie ans Publikumund Honnold richtete, als sie auf die Bühne trat, um den Preis entgegenzunehmen: „Danke, dass du daran geglaubt hast, das Unmögliche möglich zu machen und uns inspiriert hast.“ Honnold antwortete diesen Worten, indem er nur seine Hand hob, ganz ruhig, wahrscheinlich davon träumend, wieder am Felsen zu stehen. Das Unmögliche möglich machen… Hinter diesen großen Worten verbirgt sich die Tatsache, dass sich ohnehin weltweit wenig Kletterer dem Felsklettern widmen und davon vielleicht nur ein Prozent wie Honnold Free Solos wagt. Diese Disziplin, die Felsklettern unter Verzicht auf technische Hilfs- und Sicherungsmittel bezeichnet, ist offensichtlich nicht jedermanns Sache. Honnold ist aber eben nicht jedermann. Im Dokumentarfilm sieht man sein Free Solo am El-Capitan-Felsen im Yosemite-Tal. Den etwa 1.000 Meter hohen Gipfel erreicht er in unter vier Stunden. Und für die Kletterwelt bedeutet das tatsächlich nicht weniger, als das Unmögliche möglich zu machen, denn vor Honnold ist dies noch keinem gelungen.

Der Einfluss der Familie

Für Honnold, der auf den Tod mit den Worten „jeder könnte jeden Tag sterben“ herabschaut, könnte die Definition des Unmöglichen etwas anders aussehen. Aber auch er sagt, er wolle nicht, dass sein Leben von einer einzelnen Bewegung abhänge. Der 33 Jahre alte Kletterer, der von seiner Idee eines Free Solos am El Cap zum ersten Mal 2009 sprach, übte die Freerider-Route mehrmals, notierte die zweitausend Bewegungen bis zum Gipfel in sein Heft und ging die Kletterei in seinem Kopf durch, selbst wenn er nicht am Felsen übte. Warum unternimmt aber Honnold diese Klettereien, die trotz aller Proben riskant bleiben? In Kalifornien geboren zu sein und als Kind mit seinem Vater El Cap besucht zu haben, dürfte zweifellos eine Rolle gespielt haben. Der Einfluss der Familie ist gegeben, dennoch nicht unbedingt aus der Emotion heraus. Honnold wuchs in einer Familie auf, in der man sich nicht umarmte und das Wort „Liebe“ nur sparsam zum Einsatz kam. Aus ihm wurde so ein sehr introvertierter Junge, der, einmal mit dem Klettern in Berührung gekommen, den Entschluss fasste, sein Leben diesem zu widmen.

Der Artikel erschien zuerst in Ausgabe #42. Hier klicken und bestellen

Studium geschmissen

Auf die Frage, warum er solo klettere, antwortet er, dass er sich davor scheue, mit anderen Menschen Zeit zu verbringen und mit ihnen zu reden. Deswegen allein. Dass seine Eltern sich scheiden ließen und sein Vater und Großvater starben, stellten weitere Wendepunkte dar, die zu kritischen Veränderungen in seinem Leben führten. Danach schmiss Honnold sein bis dahin erfolgreiches Studium hin. In seinem Alpinist-Profil sagt er über diese Entscheidung: „Es gab niemanden, der mich dort haben wollte. Und ich wollte auch nicht dort sein. Am Ende sagte ich mir: ‚Scheiß drauf!‘ und habe mein Studium hingeschmissen.“ Dass er die Universität verließ und mit dem Geld, das er von seinem Vater geerbt hatte, einen Wohnwagen kaufte, in dem er fortan hauste, und er mit dem Tod einen Waffenstillstand schloss, brachte ihn dahin, wo er heute steht. Noch 2006 kannte ihn kaum jemand in der Kletterwelt. Aber nachdem er 2007 im Yosemite-Tal sowohl die Astromanals auch die Rostrum-Route an einem Tag geklettert war, änderte sich alles. An jenem Tag wiederholte Honnold den legendären Erfolg von Peter Croft, den man in Free Solo kurz sehen kann. Um den Druck auf sich zu reduzieren, klettert Honnold, ohne selbst den ihm am nächsten stehenden Menschen Bescheid zu geben.
Die Sache mit Amygdala
Als man ein Jahr später, am 1. April von seinem Free Solo in der Moonlight-Buttress Route im Zion-Nationalpark Free berichtete, hielten es viele für einen Scherz. Es war aber ein riesiger Schritt hin zur großen Legende, die er mit seinen Händen schuf. Der erste große Sponsorendeal, der auf sein Half-Dome-Free-Solo im Yosemite-Tal folgte, machte offiziell, dass das, was für Honnold als Hobby begonnen hatte, zu seinem Beruf geworden war. Eine der Fragen, die ihm am häufigsten gestellt werden, ist, ob er beim Klettern Angst spüre. Mit der Neugier, die der Oscar ausgelöst hat, wurde diese Frage vielleicht tausendmal gestellt. Seine Angst versuchte er aber kein einziges Mal zu verheimlichen. Er begnügte sich damit zu sagen: „Ich arbeite in Angst, bis ich keine mehr spüre.“ Und da wäre noch die Sache mit der Amygdala.

Das Gebiet des Gehirns, das für die Angstwahrnehmung zuständig ist, reagiert bei ihm weniger auf Angstreize als bei normalen Menschen. Wenn man sich Free Solo oder eine Rede von Honnold anschaut, merkt man, dass es um mehr geht als nur Angst. Es geht um Selbstfindung und darum, ein Ziel zu haben im Leben. Immer wenn er von seiner Familie spricht, hält er kurz inne. Er erzählt davon, wie perfektionistisch seine Mutter sei, dass er zu Hause mit seiner Schwester nur Französisch rede und ihr nichts genug sei. Er erzählt, dass die Anstrengungen, selbst nur der Gedanke daran, sie zufriedenstellen zu müssen, ihn in einen Brunnen stürzen lassen. Honnold spricht vom „bodenlosen Brunnen des Selbsthasses“, gibt jedoch sein Ziel, Perfektion zu erreichen, niemals auf. Gewohnheiten verschwinden nicht einfach so.

Was für ihn dem Perfekten am nächsten kommt, ist das Free Solo. Denn dabei darf man keinen Fehler machen. Wenn man einen macht, stirbt man. Und wenn man es geschafft hat, hat man ein Lächeln im Gesicht. Vielleicht nicht für den Rest seines Lebens, aber immerhin für eine Zeit. Alex Honnold jagt seit langer Zeit jenem Lächeln hinterher. Er lässt den Selbsthass beiseite und versucht nur glücklich zu sein. Wenn auch nur für ein paar Minuten. In einer Pressekonferenz fragt ihn jemand: „Bedanken Sie sich nach dem Klettern beim Felsen?“ Auch wenn er die Frage zunächst etwas seltsam findet, wird er allmählich ernst: „Ich bedanke mich nicht, aber vielleicht sollte ich es tun.“

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